Die stille Tochter
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- Erschienen: Mai 2019
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Günther Frauenlob (Übersetzung)
Agententhriller mitten im Kalten Krieg
Oslo, Juni 2016: In einem See findet der junge Slawe Piotr beim Schwimmen die Überreste einer weiblichen Wasserleiche. Tommy Bergmann, der sich unfreiwillig im Urlaub befindet, ist seinem Chef, Polizeipräsidenten Fredrik Reuter, noch einen Gefallen schuldig, und übernimmt den mysteriösen Fall. Lange Zeit kann die Identität der unbekannten Frau nicht geklärt werden, und die Ermittlungen drohen im Sande zu verlaufen.
Kurz darauf wird jedoch Arvid Storholt ermordet. Dieser war in den 70er-/80er-Jahren als Spion für die Sowjetunion tätig und hatte jahrelang im Gefängnis gesessen, bevor er vor wenigen Jahren begnadigt wurde. Tommy Bergmann - eigentlich vom Polizeidienst suspendiert - soll plötzlich im Auftrag des norwegischen Geheimdienstes ermitteln. Gibt es eine Verbindung zwischen der toten Unbekannten und dem ermordeten ehemaligen Sowjetagenten? Der selbstzerstörerische Ex-Polizist stößt bei einer Arbeit auf einen alten Skandal, der auch ihm selbst gefährlich werden kann.
Russische Spionage in Norwegen
Im November 1973 reist die 17-jährige Schwimmerin Christel Heinze aus der damaligen DDR mit ihrer Mannschaft zu einem Wettkampf nach Oslo. Dort gelingt ihr die Flucht vor dem Stasi-Beauftragten in die westdeutsche Botschaft und von dort in die BRD. Jahre später kehrt Christel zum Studium nach Norwegen zurück. Innerhalb weniger Jahre wird die ehemalige DDR-Bürgerin unfreiwillig zur KGB-Agentin und verschwindet 1982 plötzlich an einem kalten Dezembertag. Was hat ihr Bekannter, der promovierte Politikwissenschaftler Arvid Storholt, damit zu tun? Der Storholt, der später als berüchtigter Doppelagent berühmt werden sollte und nun ermordet wurde.
Bezüge zum aktuellen Fall
Tommy Bergmann stößt nun auf eine mögliche Spur, die endlich Licht ins Dunkel zu bringen scheint. Jan Asmundsen, Vizekommandant des polizeilichen Sicherheitsdienstes PST und damit des norwegischen Inlandsnachrichtendienstes, beauftragt den Ex-Polizisten, bei Martin Kleive einzubrechen, um belastendes Material zu beschaffen. Kleive ist ehemaliger U-Boot-Offizier und hatte beim norwegischen Militär Anfang der Achtziger eine beratende Position inne. Ist er der Schlüssel zur Aufdeckung des Geheimnisses um die verschwundene KGB-Agentin Christel Heinze?
Vierter Band des Spiegelbestseller-Autors
Gard Sveen, geboren 1969, ist Staatswissenschaftler und arbeitete lange Zeit als Seniorberater im norwegischen Verteidigungsministerium. Sein Debütroman um den selbstzerstörerischen Polizisten Tommy Bergmann, „Der letzte Pilger“, wurde mit dem Rivertonpreis 2013 und dem Glass Key Award 2014 als bester Krimi Skandinaviens ausgezeichnet. Sveen stand damit wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste – auf der Krimi-Couch wurde das Buch mit 90 Grad bewertet. Auch die beiden weiteren Bände der Reihe, „Teufelskälte“ und „Der einsam Bote“, waren äußerst erfolgreich.
Düsterer Thriller über den Kalten Krieg
Gard Sveen nennt selbst als Motiv für seinen aktuellen Thriller, dass er einen Roman über den norwegischen Agenten Arne Treholt schreiben wollte. Obwohl „Die stille Tochter“ eine fiktive Geschichte erzähle, seien einige Teile davon wahr. „Arne Treholt ist der große Spion, der nie gefasst wurde. Außerdem ist der Kalte Krieg eine faszinierende Zeit, die nicht oft in skandinavischen Krimis vorkommt“, so der norwegische Bestseller-Autor. In der Tat gelingt es Sveen, einen Agenten-Thriller vor dem politischen Hintergrund der 70er-/80er-Jahre zu schreiben, der sehr gut recherchiert und gekonnt umgesetzt worden ist.
Besonders die Darstellung der KGB-Agenten ist durchweg gelungen. Sie umgibt stets eine unnahbare, aalglatte und zum Teil befremdliche Aura. Professionell und gefühlslos führen sie ihre Aufgaben aus und für jemanden, der in ihr Netz gegangen ist, gibt es kein Entkommen. Auch Christel Heinze wird zum Spielball politischer Interessen und skrupelloser Agenten. Sie weiß irgendwann nicht mehr, wem sie trauen kann und wer ihr Freund ist.
Vereinzelt erzählerische Schwächen
Erneut schildert Sveen in seinem aktuellen Roman zwei Parallelgeschichten. Während die Geschehnisse um die KGB-Agentin sehr stimmig und genau erzählt werden, indem er auch auf die Motive der jungen Frau eingeht und präzise die damaligen politisch-gesellschaftlichen Zwänge aufzeigt, schwächelt die Geschichte um Tommy Bergmann diesmal etwas.
Ist dessen arrogante, selbstherrliche und rüpelhafte Art in den anderen Fällen der Reihe ein großes Plus, so wirkt sie hier oftmals fehl am Platz. Der norwegische Geheimdienst würde sicherlich nicht mit einem solchen Ex-Polizisten kooperieren. Des Weiteren sind es der Zufälle auf der Suche nach Christel Heinze und deren Spuren, besonders vor Ort in Berlin, diesmal etwas zu viel.
Die eigentliche Ermittlungsarbeit wirkt diesmal nicht immer klar durchdacht. So plaudern ehemalige (Doppel-)Agenten ganz frank und frei von ihrer Vergangenheit, bloß weil ein Unbekannter sie danach fragt. Bergmann selber, der eigentlich darauf bedacht ist, keine Spuren zu hinterlassen, wirkt oftmals bei seinem Vorgehen etwas amateurhaft.
Fazit:
Mit „Die stille Tochter“ ist dem norwegischen Erfolgsautor erneut ein Top-Thriller gelungen. Allerdings muss man Interesse für die Zeit des Kalten Krieges mitbringen. Ansonsten besitzt der Roman ab und an seine Längen. Was einerseits ein Plus des Thrillers ist – nämlich seine genaue Darstellung des KGB-Netzes und seiner Agenten, der Einfluss der Sowjetunion auf die DDR und die Konsequenzen eines Fehlverhaltens für die einfachen Bürger bzw. deren Familien – kann für einen politisch weniger interessierten Leser auch mühselig werden.
Lässt man sich aber darauf ein und kann die etwas zu oberflächliche Darstellung der polizeilichen Ermittlung um den Fund der Wasserleiche und Bergmanns Zusammenarbeit mit dem Inlandsgeheimdienstes verschmerzen, bekommt einen intelligenten und in vielerlei Hinsicht interessanten Thriller, der zum Ende hin immer spannender wird. Für Liebhaber des skandinavischen Thrillers auf jeden Fall ein Muss.
Gard Sveen, List
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