Schuldig
- C. Bertelsmann
- Erschienen: April 2019
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Sabine Mangold (Übersetzung)
Die Dinge des Lebens
Kazuhisa Fukase ist Absolvent einer angesehenen Universität, hat einen unbefriedigenden Job bekommen, immerhin aber ein Einkommen, und führt ein langweiliges Leben. Den Höhepunkt seines Arbeitstages erlebt er jeweils, wenn er seinen Kollegen Kaffee kochen kann. Darin ist er sehr gut, da kennt er sich hervorragend aus und wird wahrgenommen, keine Selbstverständlichkeit, aber ein existenzielles Bedürfnis. Er verbringt viel Freizeit in einem Kaffeeshop, wo er auch Mihoko Ochi kennenlernt, zu der er sich hingezogen fühlt. Sie werden schließlich Freunde.
Freunde bekommen alle einen gleichlautenden Brief
Eines Tages bekommt sie einen anonymen Brief, in dem nur die Zeile steht, dass Fukase ein Mörder sei. Daraufhin erzählt er ihr von einem drei Jahre zurückliegenden Winterausflug, den er mit den Freunden und Uniabsolventen Hirosawa, Tanihara, Asami und Murai, der später am Abend nachkommen wollte, unternahm. Als Murai anrief und vom Bahnhof abgeholt werden wollte, erklärte sich Fukases bester Freund Hirosawa bereit, die gefährliche Fahrt zu unternehmen. Obwohl er wie die anderen auch schon angetrunken war, obwohl er kaum Fahrpraxis hatte und zudem ein Taifun angekündigt war, fuhr er aus dem Skigebiet Madarao Kogen Richtung Bahnhof und verunglückte tödlich auf der serpentinenreichen Bergstraße. Die Freunde haben seitdem Schuldgefühle, werfen sich vor, Hirosawa fahren gelassen zu haben. Aber sind sie für seinen Tod verantwortlich? Und warum soll Fukase sein Mörder sein? Später zeigt sich, dass auch die anderen Freunde eine Nachricht gleichen Inhalts erhalten haben. Fukase versucht herauszufinden, was es mit dem Vorwurf auf sich hat. Dabei erfährt er viel über sich und Hirosawa.
Kanae Minato wurde hierzulande bekannt durch „Geständnisse“, einen Thriller von gesellschaftspolitischer Brisanz, der nicht nebenbei, sondern als integralen Bestandteil der Kriminalhandlung interessante Dinge über die japanische Kultur vermittelt, über den Leistungsdruck, dem die Menschen in der Schule und am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, wie dieser Druck einhergeht mit der Art brutalen Nachstellens, die heute als Mobbing bezeichnet wird und hervorragend in einem Klima gedeiht, das durch zunehmende moralische und empathische Leere charakterisierbar ist.
Wie in „Geständnisse“ geht es auch in „Schuldig“ um gesellschaftlich relevante Fragen und Probleme, um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Zwänge und Kultur.
Guter Kaffee als wichtigste Alltagskompetenz
Unter anderem wird die verbreitete Vorstellung hinterfragt, der Mensch existiere nur, wenn er von anderen wahrgenommen wird. Einige der vielen Probleme, die sich hieraus für das Individuum und irgendwann die Gesellschaft ergeben, spiegelt dieser Roman meisterhaft wider. Eine weitere Frage ist die, ob man einen Menschen jemals wirklich kennen kann. Was ist man bereit zu tun, um einen Freund, eine Freundin zu bekommen, und zu welchen und wie vielen Lügen ist man bereit, das zu erhalten, was man Freundschaft nennt?
Fukase ist ein Mann mit wenig Selbstbewusstsein, wirkt bisweilen gar wie eine redundante Persönlichkeit. Er leidet darunter, von der Welt nicht wahrgenommen zu werden. Allein seine Kenntnisse über Kaffee und seine Fähigkeit, besseren Kaffee zu kochen als seine Kollegen, verschaffen ihm Momente, in denen sein Selbstwert erhöht wird.
Die Autorin gibt dem Alltag mit seinen wiederkehrenden Banalitäten viel Raum. Dem Einkaufen und Kochen von Kaffee, verschiedenen Techniken und Kaffeesorten, dem Süßen von Kaffee mit Honig, dem Essen und Trinken allgemein. Während Minato Kanae sich ad nauseam über diese Dinge ausbreitet, lernen wir die Figuren kennen und besser verstehen.
Ein Steinchen soll das Wasser in Bewegung bringen
„Schuldig“ beginnt mit der isoliert stehenden Aussage, Kazuhisa Fukase sei ein Mörder. Diese Aussage findet sich später in einem anonymen Brief, der Mihoko übermittelt wurde. Aber anders als im psychologischen Thriller „Geständnisse“, der eine Rachegeschichte erzählt und dabei in die dunklen Bereiche seiner Charaktere vordringt, erweckt „Schuldig“ nur kurzzeitig den Eindruck, es könne um Rache gehen. Die Anschuldigung ist nicht Bestandteil der geplanten Aufdeckung eines Verbrechens, sondern lediglich ein Shakespearesches Steinchen, das ins Wasser geworfen wird und dieses in Bewegung bringt. Und irgendwer beobachtet, was daraufhin geschieht.
„Schuldig“ hat viel gemeinsam mit Claude Sautets Film „Die Dinge des Lebens“ aus dem Jahr 1970, der, eingebettet in eine Gegenwartshandlung, in einer Sequenz von Rückblenden von einem Liebespaar und von einem tödlichen Autounfall erzählt. In diesen Rückblenden erfahren wir über die beiden Hauptfiguren, was zum Verständnis der Ereignisse wichtig ist. Der Film reiht vermeintliche Banalitäten aneinander, die das Wesentliche aus nebensächlichen alltäglichen Dingen entstehen lassen.
„Schuldig“ verfährt ebenso. Auch werden wichtige Kausalzusammenhänge aufgebrochen, indem wir eine belanglos anmutende Ursache erfahren, deren dramatische Wirkung sehr viele Seiten später deutlich wird.
Ist bei Sautet eine Zigarette die wichtigste Nebensache, hängt die wichtigste Nebensache in „Schuldig“ mit dem Motiv des sehr gelungenen Umschlagbildes zusammen. Den Blick jeweils beim Schließen des Buches vor einer Lesepause auf dieses Bild gerichtet, fragt man sich während der Lektüre mit wachsendem Interesse, was es damit denn nun auf sich haben könnte.
Unser fiktionaler Sachwalter in „Schuldig“ ist Fukase, den Minato in der Funktion eines Detektivs losschickt, damit er in einer Abfolge von Gesprächen ein Bild entstehen lässt, das Aufschluss über Hirosawa gibt. Auf diesem Ermittlungsweg zum Verständnis eines Menschen geht es um die Relativität von Wahrheit und die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen. Das Ego von Charakteren, ihre Eitelkeiten, Täuschungen und Selbsttäuschungen führen entweder zu einem komplexen Bild von dem Toten, oder aber zu einem Zerrbild.
Fazit:
Am Ende bleibt die Frage, ob Hirosawa tatsächlich die Summe der Erinnerungen seiner Familie, Freunde und Bekannten ist – die Summe der Erzählungen anderer Menschen. Und inwieweit er selbst in diesem Bild überhaupt vorkommt, ohne eigene Stimme. Der Roman von Kanae Minato ist fast so schön wie Sautets Film. Dessen Titel, „Die Dinge des Lebens“, ist allerdings ungleich schöner, so alltäglich wie umfassend.
Kanae Minato, C. Bertelsmann
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