Babylon Berlin
Berlin 1928. Bernie Gunther erhält das Angebot, von der Sitte in die Berliner Mordkommission zu wechseln, und zwar von keinem geringeren als dem Berliner Polizeivizepräsidenten Bernhard Weiss. Unter deren legendärem Leiter Ernst Gennat soll Bernie dabei helfen, einen Serienmörder zu überführen, der Berliner Prostituierte umbringt und anschließend skalpiert, weshalb die Berliner ihn mit dem ihnen eigenen Zynismus "Winnetou" getauft haben.
Die Ermittlungen kommen nicht voran, trotz modernster Ermittlungsmethoden mit dem "Mordwagen", einem Mercedes mit allerlei Ausstattung für die Arbeit am Tatort, der auf eine Idee Gennats zurückgeht (und der tatsächlich existierte). Unmittelbar nach Bernie´s Wechsel wird eine weitere Gelegenheitshure tot und skalpiert aufgefunden, und Bernie sichert am Tatort ein paar interessante Beweisstücke, die ihn auf die Spur der Toten und ihrer Bekannten und schließlich zu Ihrem Vater, einer Berliner Unterweltgröße führen. Noch bevor Bernie jedoch seine Ermittlungen beenden kann, überschattet eine weitere Serie von Morden die deutsche Hauptstadt. Diesmal werden versehrte Kriegsveteranen, die in den Straßen Berlins halbseidenen Geschäften nachgehen oder schlicht betteln, mit einem Kopfschuss aus kurzer Distanz mit einer kleinkalibrigen Waffe ermordet. Bei jeder Leiche finden sich Spuren, die nach Meinung Gennats allerdings vor allem die Mordkommission in die Irre führen sollen. Als der Mörder dann auch noch unter dem Pseudonym "Dr. Gnadenschuss" Briefe an das Berliner Tageblatt sendet und weitere Morde nebst minutiöser Darstellung ihrer Durchführung ankündigt, gerät die Kripo und - in einer Atmosphäre wachsenden, von den aufkommenden Nazis gekürten Antisemitismus - insbesondere ihr jüdischer Leiter Weiss unter immensen Druck. Um endlich Resultate zu erzielen, ermittelt Gunther alsbald "undercover" - den Begriff gibt es damals noch nicht - indem er sich selbst als beinamputierter ehemaliger Soldat verkleidet in einem sog. "Klutzwagen", einem Gefiert, mit dem Beinamputierte sich mit Händen und Armen fortbewegen, unter die Bettler der Stadt und damit zugleich in höchste Gefahr begibt.
Berlin1928, das ist eine Stadt voller Widersprüche. Zwar sind die schlimmsten Auswirkungen der Inflation überwunden und es kommen gar Touristen aus England und Frankreich, um sich unter sachkundiger Führung an dem "Sündenpfuhl" Berlin mit seinen Kabaretts und Spelunken zu erregen, zugleich sind aber die Unterschiede zwischen Arm und Reich unerträglich. Während sich die Haute Vaulée amüsiert, können sich viele Kriegerwitwen nur mit Gelegenheitsprostitution über Wasser halten, ganz zu schweigen von den Kriegsversehrten, für die es praktisch keinerlei medizinische oder soziale Versorgung gibt und die zu allem Überfluss ihre besser gestellten Landsleute nur an den verlorenen Krieg erinnern und daher auch noch als Sündenböcke für die Verkommenheit Berlins herhalten müssen. Auch deshalb erfährt "Dr. Gnadenschuss" keineswegs nur Empörung und Ablehnung für sein mörderisches Tun. Gunther vermutet - ohne rechte Anhaltspunkte, aber zu Recht, soviel sei verraten - das es ich bei Winnetou und Dr. Gnadenschuss um ein- und dieselbe Person handelt. Das düstere Setting erinnert stark an Volker Kutschers Erstling "Der nasse Fisch" ,der als Miniserie "Babylon Berlin" sehr erfolgreich verfilmt wurde, aber das dürfte wohl dem Ort der Handlung zu gleicher Zeit geschuldet sein.
Dichte Atmosphäre, aber wenig überzeugender Plot ...
Bernie Gunther begegnet bei seinen Ermittlungen - wie in den meisten anderen Romanen der Reihe auch - einer Reihe illustrer Persönlichkeiten, so u.a. Georg Grosz, Gustav Gründgens, der Brecht-Muse Lotte Lenia und nicht zuletzt Thea von Harbou, Ehefrau und Drehbuchautorin von Fritz Lang, die ihn für einen zukünftigen Film über die Arbeit der Mordkommission ausquetscht, wohl eine Anspielung auf den Fritz-Lang Film "M - eine Stadt sucht einen Mörder", dessen Kommissar Ernst Gennat zum Vorbild hatte. Überhaupt ist die Atmosphäre von Berlin Ende der Zwanzigerjahre authentisch und überzeugend eingefangen, die Beletage ebenso wie die Gosse, vor allem aber der allgegenwärtige Antisemitismus vor dem Hintergrund des aufkeimenden Nationalsozialismus. Für den Plot gilt das leider nicht in gleicher Weise. Philip Kerr verstarb kurz nach Vollendung des Buches im Alter von nur 62 Jahren an Krebs, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Autor eigentlich zwei verschiedene Geschichten im Kopf, aber nur noch Zeit für ein Buch hatte. Und so verwebt er hier zwei Handlungsstränge miteinander, die nicht so recht zueinander passen wollen, weshalb die Aufklärung der beiden Mordserien nicht überzeugt, vor allem weil die Motivation des Täters, urplötzlich seinen Modus Operandi und seine "Zielgruppe" zu wechseln, ja überhaupt die Gründe für sein Handeln weitgehend im Dunkeln bleiben. Selbst der Sarkasmus, mit dem der Held in allen anderen Geschichten der Reihe sein Handeln und seine Umwelt kommentiert, bleibt hier ein wenig auf der Strecke. Letzteres lässt sich vielleicht damit erklären, dass dieses Werk zeitlich weit vor dem ersten Roman "March Violets" (deutsch: Feuer über Berlin) angesiedelt und der Held also noch bedeutend jünger, nämlich - glaubt man den Hinweisen in den anderen Romanen - wohl etwa 30 Jahre alt ist.
… und ein anrührendes Ende
In dem wohl unwiderruflich letzen Band der der Bernie-Gunther-Reihe beleuchtet Kerr die frühen Jahre seines Helden und liefert - gleich einem Vermächtnis - hier und da auch Hinweise zu dessen späterer Persönlichkeitsentwicklung. Anrührend ist - ganz am Schluss - ein Brief der gerade erst gefundenen Frau in Gunthers Leben, die ihn verlässt, weil sie die menschlichen und sozialen Abgründe nicht ertragen mag, in die Bernie in seinem Beruf tagtäglich blicken muss. Dieser Brief sagt manches aus über die Vorstellung von der Person, die Kerr bei der Erfindung dieses Anti-Helden gehabt haben dürfte. Eine hübsche Reminiszenz ist zudem die tragische Nebenfigur des Mr. Rankin im Roman, hat doch Ian Rankin, Krimigroßmeister und persönlicher Freund des Autors, das Vorwort zu diesem Buch verfasst. Es bleibt zu hoffen, das kein Verlag aus pekuniären Gründen auf die Idee kommen möge, die Reihe etwa mit einem anderen Autor fortzusetzen, das wäre wahrlich pietätlos. Mit diesem Band - mag er auch bei weitem nicht der Stärkste in der Reihe sein - hat Bernie Gunther als Romanfigur seine Vollendung gefunden. Wir kennen nun aus insgesamt 14 Romanen beinahe sein ganzes Leben. Allein die Frage, wie er Gormann den Würger zur Strecke brachte - ein früher Ermittlungserfolg, der in verschiedenen Romanen immer wieder auftaucht und die Bekanntheit Günthers unter seinen Landsleuten begründete - wird nun wohl auf ewig unbeantwortet bleiben. Adieu, Bernie, ein Platz im Olymp der historischen Kriminalermittler ist Dir allemal gewiss.
Philip Kerr, Quercus
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