Willnot
- Liebeskind
- Erschienen: Februar 2019
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Jürgen Bürger (Übersetzer), Kathrin Bielfeldt (Übersetzer)
Ein staubtrockener Noir
Am Rande der amerikanischen Kleinstadt Willnot wird bei einer alten Kiesgrube ein Grab voller Leichen entdeckt. Für Sheriff Hobbes eine Horrorvorstellung, war er doch bislang vorwiegend mit Verkehrsunfällen und ähnlichen Bagatellen beschäftigt. Unter Leitung von Seb Daiche machen sich einige State Trooper an dem Fundort zu schaffen und versuchen, dessen Geheimnis auf die Spur zu kommen.
„Worüber haben Sie sich unterhalten?“
„Unser Wortwechsel hätte maximal drei Sprechblasen eines Comicstrips füllen können. Er sei bei den Marines gewesen, ich solle ihn Bobby nennen, ich würde alt aussehen, er sei auf der Durchreise.“
„Er hat Sie also um nichts gebeten?“
„Nein.“
„Oder erwähnt, wo er untergekommen ist?“
„Er hat noch nicht einmal erwähnt, dass das FBI später vorbeikäme und nach ihm fragen würde.“
Währenddessen erhält der Arzt Lamar Hale unerwarteten Besuch. Brandon „Bobby“ Lowndes, den er vor 14 Jahren zum letzten Mal sah, kommt in die Stadt, um „Hallo“ zu sagen, bevor er wieder verschwindet. Kurz darauf taucht FBI-Agentin Theodora Odgen auf, die auf der Suche nach Bobby ist, einem Scharfschützen der Marines. Auch die vierte Staatsgewalt findet sich in Person des Journalisten Joel Stern ein, der Bobbys Hintergrund recherchieren möchte. Dann wird Bobby angeschossen, doch noch ehe er im Krankenhaus eingehend befragt werden kann, entlässt er sich selbst…
Ist das ein Krimi oder kann das weg?
Ein Querverweis auf ein anderes Buch sei zunächst gestattet. In der Rubrik „Krimi im Kreuzfeuer“ (Folge 9) wurde zuletzt lebhaft darüber diskutiert, was von dem Roman "Der wilde Detektiv" von Jonathan Lethem zu halten sei. Ist das ein den Rahmen des Krimi-Genres sprengender und darüber hinaus gehender Noir - oder gar kein Krimi? In der Krimi-Couch-Rubrik „Aufgeklärt: Noir“ schreibt Jochen König zur Begriffserklärung: „Verbrechen und Ermittlung stehen nicht im Mittelpunkt der Erzählung, sondern die Auswirkungen, die Gewalt, Kriminalität und deren Folgen auf die jeweiligen Protagonisten.“ Das sollte man wissen, bevor man sich dem neuen Roman von James Sallis widmet.
Laut Buchrücken „Ein Roman wie ein Schuss aus dem Hinterhalt, überraschend, brutal und geheimnisvoll.“ Zumindest im Punkt „geheimnisvoll“ dürften sich alle Leser einig sein, wobei zu erwähnen ist, dass es sich hier um die Nummer 2 der Krimi-Bestenliste aus März 2019 handelt. Die im Internet abrufbare, interessante Rezension von Kolja Mensing erklärt warum.
Doch wozu die lange Einleitung? Der eingangs geschilderte Plot bestimmt weitgehend den kriminalistischen Inhalt des gesamten Romans, will sagen, danach driftet die Geschichte weg vom Krimi. Unter einem „klassischen Krimi“ versteht man gemeinhin den Dreiklang „Verbrechen – Ermittlung – Auflösung“.
Bei „Willnot“, soweit der Spoiler, ist das nicht der Fall. Wer liegt dort in der Grube? Wie viele Leichen sind es überhaupt? Warum sind FBI und Presse auf der Suche nach Bobby? Warum wird dieser angeschossen? Sicher ist am Ende nur eins: Auf der letzten Seite wird – Achtung: Mega-Spoiler – Kater Dickens begraben.
„Eines Tages, als ich bei einem Zwölfjährigen, der Louie hieß, den Verband einer Stichwunde wechselte, fragte ich ihn, was er sein wolle, wenn er groß ist, und er sagte: „Am Leben.“
Was geschieht in der Zwischenzeit? Lamar Hale ist der ortsansässige Arzt, der als Ich-Erzähler die Geschichte vorträgt. Gefühlt befindet man sich locker ein Drittel des Buches in dessen Arztpraxis oder dem örtlichen Krankenhaus, wo die Bewohner des Städtchens behandelt werden. Daneben gibt es noch ausführliche Einblicke in Lamars Privatleben, welches dieser an der Seite von Richard führt.
Ein Country-Mystery-Noir?
Ob es den Begriff „Country-Mystery-Noir“ bereits gibt ist dem Rezensenten nicht bekannt; er würde aber passen. Denn vorrangig geht es um die Folgen für den Protagonisten Lamar, der „Besuche“ von vielen Leuten erhält. Diese hinterlassen jedoch Spuren in dessen Träumen, wodurch Lamar wiederum in deren Vergangenheit zurückblicken kann. Mystery, Verweise auf die amerikanische Science-Fiction-Literatur, diverse Philosophen sowie der Alltag der Hauptperson und dessen Sinnieren über den Sinn des Lebens prägen den Roman. Dazwischen gibt es minimale Einsprengsel, die die (kriminelle?) Ausgangssituation oder Bobby betreffen.
Fazit:
Wer ein metaphysisch anmutendes Leseerlebnis im Stil eines Noir sucht, darf hier zugreifen. Sprachlich ist James Sallis ein Erlebnis.
James Sallis, Liebeskind
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