James Bond. Leben und sterben lassen
- Ullstein
- Erschienen: Januar 1961
- 6
- London: Jonathan Cape, 1954, Titel: 'Live and Let Die', Seiten: 240, Originalsprache
- Frankfurt am Main; Berlin: Ullstein, 1961, Seiten: 175, Übersetzt: Günter Eichel
- Bern; München; Wien: Scherz, 1992, Seiten: 175
- Bern; München; Wien: Scherz, 1993, Seiten: 175
- München: Heyne, 2003, Seiten: 272, Bemerkung: vollständig überarbeitete Ausgabe
- Ludwigsburg: Cross Cult, 2012, Seiten: 331, Übersetzt: Stephanie Pannen & Anika Klüver
Ein turbulenter Thriller an farbenfrohen Schauplätzen
Buonaparte Ignace Gallia, genannt "Mr. Big", ist der farbige Al Capone von New York. In Afrika geboren und auf Haiti aufgewachsen, hat sich der charismatische Mann zum Herrn der Unterwelt aufgeschwungen. Sein Verbrechernetz spannt sich weiter über die gesamten USA. Handlanger findet er unter der schwarzen Bevölkerung, die er sich mit Terror und Schwarzer Magie gefügig macht. Die Behörden blieben bisher machtlos, aber jetzt mischt sich der Geheimdienst ein: Mr. Big verdingt sich als Agent der Sowjetunion und lässt seine Organisation für die roten Feinde der freien Welt arbeiten.
Außerdem hat Mr. Big, der auch in der Karibik einen Stützpunkt unterhält, auf der Insel Jamaica offenbar den Schatz des Piratenkapitäns Morgan gefunden. Große Mengen wertvoller Goldmünzen aus dem 18. Jh. tauchen seit einiger Zeit in den USA auf; ihr Verkauf mehrt das Kapital, das Mr. Big zur Agitation gegen den Westen einsetzen kann.
Da Jamaica in diesem Jahr 1955 eine britische Kolonie ist, arbeitet der Secret Service mit dem US-Geheimdienst zusammen. "M" schickt seinen besten Mann: James Bond, Agent 007 mit der Lizenz zum Töten, der nach seiner Genesung darauf brennt, sich an den Sowjet-Schergen für erlittene Qualen zu rächen (vgl. Casino Royale, Heyne Allgemeine Reihe Nr. 01/13849).
In New York trifft Bond seinen amerikanischen Kollegen und Freund Felix Leiter, aber die Freude währt nur kurz, als das Duo bemerken muss, dass Mr. Big dank seiner Spitzel längst über seine Gegner informiert ist. Er stellt Bond und Leiter teuflische Fallen, denen diese nur arg lädiert entkommen können. Dabei bedient sich Mr. Big der schönen Simone Latrelle, genannt "Solitaire", deren Hellsichtigkeit schon viele Attacken auf sein kriminelles Imperium vereitelt hat.
Aber Solitaire hat genug von ihrem finsteren Herrn. Sie lernt Bond kennen, verliebt sich sogleich in ihn und flieht mit ihm nach Florida, wo 007 einen weiteren Schlupfwinkel ausspionieren soll. Der erzürnte Mr. Big lässt Solitaire entführen und Leiter den Haien vorwerfen. Nur Bonds kann er nicht habhaft werden, und dieser setzt sich sogleich verbissen auf Mr. Bigs Spuren. Auf Jamaica will er seinen Feind stellen, aber der verbirgt sich in seiner Inselfestung, die von Haifischen, Wilden und Voodoo-Dämonen bewacht wird...
"Leben und sterben lassen" - der Titel zitiert James Bond, der beschreibt wie er mit den Schergen der sowjetischen Terrortruppe "Smersch" umzugehen gedenkt - ist das zweite 007-Abenteuer. Zwei Jahre ließ sich Ian Fleming Zeit für die Niederschrift, und wie sich rasch herausstellt, hat er sie gut genutzt. Im Vergleich zum Erstling "Casino Royale" ist dies das um Längen bessere Buch.
Es gibt eine richtige Handlung, zwar schon deutlich überzeichneter und realitätsferner als Bonds französischer Einsatz, aber sehr viel unterhaltsamer. Das ist gut so, denn nicht einmal mit viel Wohlwollen betrachtet wirkt Mr. Bigs Schreckensregiment glaubhaft. Als theatralische, überlebensgroße Bedrohung erfüllt es aber seinen Zweck.
Das Tempo hat im Vergleich zu "Casino Royale" angezogen, das Spielfeld hat sich vergrößert. Quer durch Nord- und Mittelamerika geht die wilde Jagd, die immer wieder unterbrochen wird durch Entführungen, wüste Schießereien, spektakuläre Mordanschläge. Fleming ist mutiger geworden, inszeniert nun wirklich Action. Filmreif ist die große nächtliche Schlacht in Mr. Bigs Lagerhaus; zwischen Fischen, Würmern und anderem bissigen oder giftigen Meergetier liefern sich Bond und seine Häscher eine aquarienerschütternde Schlacht auf Leben und Tod. Ähnlich eindrucksvoll gelingt Fleming später die Schilderung von Bonds nächtlichem Tauchgang durch die haifischverseuchten Tropengewässer von Jamaica.
Auch in Sachen Gewalt schaltet "Leben und sterben lassen" gleich mehrere Gänge hoch. Erneut muss Bond eine detailreich zu verfolgende Folterung über sich ergehen lassen, die er seinen Gegnern gleich mehrfach mit doppelter Brutalität heimzahlt. Anders als im Film bleibt die Doppelnull-Lizenz kein nebulöses Versprechen: Flemings Bond nutzt sie im Notfall rücksichtslos und ohne Erbarmen (und ohne "lustige" Witzchen).
Sehr ausführlich schildert Fleming wieder Land und Leute. Die Erfahrungen eines Briten in den Vereinigten Staaten, die Bond stellvertretend für seinen geistigen Vater erlebt und manchmal durchleidet, beschreiben die USA vor fast fünf Jahrzehnten und sind oft sehr amüsant, weil Fleming aus einer gewissen Reserviertheit den "abtrünnigen Kolonisten" gegenüber keinen Hehl macht. Freilich übertreibt er es; manchmal meint man einen Reiseführer zu lesen, was der eigentlichen Geschichte nicht zu Gute kommt.
Dass Ian Fleming seine Wahlheimat Jamaica über alles liebte, weiß der Leser, sobald sich die Handlung auf diese Insel verlagert. Sie nimmt vor dem geistigen Auge plastisch Gestalt an. Fleming kannte sich in karibischer Geografie, Geschichte oder Gesellschaft sehr gut aus. Das war nicht angelesen, sondern erlebt. "Leben und sterben lassen" lässt nicht mehr los, sobald sich das Gefecht mit Mr. Big nach Jamaica verlagert und unter und auf dem Wasser seinen explosiven Höhepunkt erreicht.
James Bond in "Leben und sterben lassen" bleibt eine vom Kino-007 konträre Figur. Er ist härter, kühler und rücksichtsloser, kein Abenteurer, sondern ein Profi mit einer Mission: die Jagd auf den sowjetischen Erzfeind, bei der er keinerlei Spaß versteht. Ein paar Ecken und Kanten hat Fleming nichtsdestotrotz abgeschliffen. Der völlige körperliche und geistige Zusammenbruch, den der böse Le Chiffre Bond in "Casino Royale" bescherte, ist überwunden. 007s diesbezügliche Racheschwüre auf den ersten Seiten wirken eher wie eine Pflichtübung. Selbstzweifel oder gar Selbstmordgelüste treiben Bond in "Leben und sterben lassen" nicht mehr um.
Solitaire übernimmt die in der 007-Welt eher undankbare weibliche Hauptrolle. Ein hirnleeres "Bond-Girl" wie im Kino ist sie nicht, aber dennoch primär schön und ein wenig geheimnisvoll, weil sie in die Zukunft blicken kann. Besondere Vorteile zieht sie daraus indes nicht, sondern bleibt stets passives Opfer ihrer jeweiligen Herrn - der "bösen" wie Mr. Big, aber auch der "guten" wie James Bond.
Mr. Big selbst gehört zu den kontroversen der megalomanischen Schurken, die Ian Fleming in die literarische Welt setzte. Das dürfte einst weder ihm noch seinem Publikum aufgefallen sein. "Leben und sterben lassen" ist ein Roman aus dem Jahre 1955. Nie wird dies so deutlich wie in der Darstellung der farbigen Handlungsträger. Wir wollen an dieser Stelle nicht in das Horn der zwanghaft politisch Korrekten stoßen, d. h. darüber wettern, dass der Böse schwarz ist. Wieso denn nicht, ist auf diesen Vorwurf zu antworten, zumal Fleming sorgfältig darauf achtet, seinen Mr. Big mit der Intelligenz und dem Charisma auszustatten, die einem Gangster seines Formats zukommen.
Auch dass Big recht merkwürdig anzuschauen ist, sollte Fleming nicht angekreidet werden. Er wollte nicht die Furcht vor dem "bösen schwarzen Mann" schüren, sondern durch die comichaft verzerrte Überzeichnung bei der Schaffung eines interessanten Bösewichts auf Nummer Sicher gehen. Mr. Big agiert daher auf einer Ebene mit Lex Luthor.
Und doch ist Fleming ein Gefangener seiner Epoche, wenn er sich "unter die Schwarzen" begibt. Die scheinen in einem abgeschlossenen Kosmos mit eigenen, sehr archaischen Regeln zu leben. Es hat durchaus chauvinistische, womöglich sogar rassistische Züge, wenn Fleming eine amerikaweite schwarze Subkultur konstruiert, deren Mitglieder (per Buschtrommel?) stets über alles informiert ist, was sie betrifft. Mit Voodoo und Aberglauben lassen sie sich manipulieren und bilden deshalb eine stille Bedrohung für (weißes) Recht und Ordnung. (Da wäre es interessant, die "bearbeitete" deutsche Fassung mit dem Originaltext zu vergleichen!)
Zwar betont Fleming gleich mehrfach, dass 9 von 10 "Schwarzen" anständige Staatsbürger mit den üblichen Hoffnungen und Wünschen seien, aber man meint einen gönnerhaften bzw. patriarchalischen Unterton herauszuhören, zumal für Fleming ganz selbstverständlich zu sein scheint, dass sich seine farbigen Mitmenschen auf dieser Welt mit den untergeordneten Positionen bescheiden: Sämtliche "Neger" in "Leben und sterben lassen" sind Dienstleute, Zugschaffner, Hotelpagen usw. Nur Mr. Big und seine Bande bilden eine Ausnahme - und die sind Verbrecher: ein zweifelhafter "Ausweg".
"Leben und sterben lassen" ist der zweite James Bond-Roman, den der Heyne-Verlag anlässlich des 50. "Geburtstags" des unverwüstlichen Meisteragenten neu herausbringt. Der Preis ist moderat, die Titelbilder sind schön gestaltet: eine gute Gelegenheit, den "literarischen" 007 kennenzulernen.
Was sich hinter dem Terminus "vollständige überarbeitete Ausgabe" verbirgt, bleibt bis auf weiteres Verlagsgeheimnis. Ist dies eine vollständige, d. h. ungekürzte, u n d überarbeitete Ausgabe, oder wurde die Übersetzung vollständig überarbeitet? Auf jeden Fall ist es noch die ursprüngliche von Günter Eichel. Das geht in Ordnung, denn obwohl sie nun mehr als vierzig Jahre alt ist, bleibt sie nach wie vor lesbar. Die "Überarbeitung" beschränkt sich denn wohl auch auf die Entschärfung von Passagen, die heute definitiv nicht mehr tragbar sein mögen. So wird man in dieser Ausgabe Mr. Big nicht mehr als "riesigen Neger" klassifiziert finden - jawohl, so streng sind die Sitten geworden!
Ian Fleming, Ullstein
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