Die Diagramme des Todes
- Knaur
- Erschienen: Oktober 2019
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Die Realität ist grausamer als jeder Roman
„Der Täter hat wahllos auf sie eingestochen, wie ein Irrer […] Brust, Bauch, Hals, Arme, Hände - und dann der Kopf … sehen Sie sich den Kopf an...“. Als der Bremer Hauptkommissar Kiefer Larsen und sein Team den Tatort betreten, stockt ihnen der Atem. Der Kopf des Opfers Monika Wilhelms, einer Prostituierten, ist fast vollständig abgetrennt, der Körper mit Messerstichen und -schnitten übersät und ein Telefonhörer steckt fast bis zur Hälfte in der Vagina der jungen Frau.
Das Ermittlerteam bekommt es mit einem besonders bösartigen und sadistischen Mörder zu tun. Eins scheint offensichtlich: Es handelt sich nicht um einen Gelegenheitsmord, denn hier scheint jemand seine bizarren (Sex-)Fantasien zu verwirklichen. Larsen fühlt sich an einen ungeklärten Mordfall aus der Vergangenheit erinnert und will den Mörder nun um jeden Preis stoppen. Er hat aber nicht viel Zeit, denn der Täter sucht bereits sein nächstes Opfer.
Mord nach innerem Drehbuch
Der Täter ist nach dem ersten Mord frustriert, da sich die Tat anders abspielt als er es sich in seiner Fantasie immer vorgestellt hat. Wenn er sich ausmalte, wie er auf eine Frau einsticht und diese winselt, bevor er wieder zusticht, war mit jedem Hieb und jedem Schrei seine Erregung gewachsen. Aber der Mord an Monique, wie sich das Opfer Monika Wilhelms nannte, läuft zu schnell ab. Es ist vorbei, bevor er es genießen kann.
Im Laufe der Zeit entwickelt der Mörder deshalb seine ganz eigene Methode. Er zeichnet Diagramme, die seine Emotionen während der einzelnen Handlungen bei den Morden widerspiegeln, um mit deren Hilfe seine Befriedigung und damit verbunden sein Lust am Töten zu „optimieren“ und auf das Höchstmögliche zu steigern. Von Mord zu Mord geht er dadurch brutaler und zielgerichteter vor. Der Täter konstruiert sein persönliches, inneres Drehbuch, das er mehr und mehr in die Tat umsetzen will. Darüber hinaus stiehlt er auch jeweils die Einnahmen der Prostituierten, da er vollkommen mittellos ist. Hauptkommissar Larsen tappt über Monate im Dunkeln. Als er dem Mörder eine Falle stellt, kann dieser im letzten Moment entkommen. Erst ein Zufall bringt die Ermittler auf die richtige Spur.
Zweiter True-Crime-Thriller des Autorenpärchens
„Die Diagramme des Todes“ ist das neue Werk von Profiler Axel Petermann und Autor Claus Cornelius Fischer. Letzterer hat sich unter anderem durch seine Drehbücher zu Filmen wie Blueprint - mit Franka Potente in der Hauptrolle - und verschiedenen Tatorten eine Namen gemacht. Krimileser kennen ihn durch seine Reihe um Commissaris Bruno van Leeuwen von der Amsterdamer Polizei. Die Buchserie wurde für das ZDF verfilmt.
Axel Petermann war Leiter einer Mordkommission in Bremen und als Ermittler für die Aufklärung mehrerer Mordfälle verantwortlich. Als Berater und Story-Lieferant war er darüber hinaus an zahlreichen Tatort-Folgen aus Bremen und Frankfurt beteiligt. Heute gilt Petermann als Mitbegründer der Fallanalyse in Deutschland und als einer der besten Profiler Europas. Ihr erster gemeinsamer True-Crime-Thriller „Die Elemente des Todes“ stand lange Zeit in den Bestsellerlisten.
In beiden Romanen greifen die Autoren auf reale Fälle zurück. Im aktuellen Thriller dient zum einen die Tat eines Jurastudenten als Vorbild, der 1999 nach „Anleitung“ eines Romans eine junge Frau mit über 20 Messerstichen sowie durchgeschnittener Kehle tötete. Der zweite Fall betrifft einen 28-jährigen Tischler, der Ende der 1980er Jahre in Bremen drei Prostituierte brutal ermordete und deren Einnahmen stahl, da er hochverschuldet war.
Mord aus Rache
William Shakespeare lässt in seinem Drama „Perikles. Fürst von Tyrus“ seine Hauptfigur folgende Worte sprechen: „Mord ist der Wollust nah wie Rauch dem Feuer“. Genau das trifft auf das innere Empfinden des Mörders im aktuellen Thriller von Petermann/Fischer zu. Es geht ihm nicht um die Ausübung eines Mordes an sich, den er - so seltsam es auch klingen mag - eher als notwendiges Übel ansieht.
Ihm geht es vielmehr um Kontrolle, Macht und Erniedrigung, wobei letzteres auch ihn betreffen kann und soll. Der Mörder wird immer dann aktiv, wenn er von seiner großen Liebe Mariona, einer 19-jährigen Friseurin, die bei ihm wohnt und ihn finanziell ausnimmt, (auch sexuell) zurückgewiesen wird. Ihr gegenüber fällt es dem Täter aber schwer, seine Gefühle zu zeigen. Seinen Frust wegen der ablehnenden Haltung Marionas lebt er durch seine Gewaltfantasien an den Prostituierten aus. Gleichzeitig kann er seine Mitbewohnerin durch den Raub der Tageseinnahmen der Frauen wieder für einige Zeit milde stimmen.
Durchschnittlicher Ermittler, aber realistische Darstellung
Mit Kiefer Larsen tritt ein Ermittler auf, dessen Besonderheit sich leider nur im Vornamen manifestiert. Dass seine Arbeit ihn psychisch fordert, ihn zeitlich stark einspannt und darunter auch seine Beziehung zu seiner Freundin Kristin leidet, entspricht mittlerweile dem Klischeebild eines Ermittlers. Auch leidet er bis heute unter dem Tod seiner Tochter Ellie, für den er sich verantwortlich fühlz. Seine Ex-Frau Hanna leidet seitdem unter Depressionen und Angstzuständen.
Im Vergleich zu Hauptkommissar Larsen nimmt aber dessen Freundin Kristin eine für den Leser wichtige Rolle ein. Sie hinterfragt und will verstehen, wie Kiefer mit der Belastung umgeht, was die Morde, die damit verbundene Brutalität und der zeitliche Druck, den Täter endlich zu fassen, mit ihm als Menschen machen. Sie nimmt stellvertretend die Rolle des Lesers ein, der sich natürlich auch für die Innensicht des Kommissars interessiert und genauso wissen will, wie er das miterlebte menschliche Elend und Leid auf Dauer verkraftet.
Was allerdings den Thriller wohltuend aus der breiten Masse hervorhebt, ist die Darstellung der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Überwiegend nüchtern, aber dafür genau und authentisch wird das Vorgehen der Polizei beschrieben. Dafür spricht auch, dass sich die Suche nach dem Täter über Monate hinzieht und es immer wieder Stillstand und sogar Rückschritte gibt.
Harte Lesekost
Man muss als Leser einiges aushalten können, wenn man den Thriller von Petermann/Fischer liest - ganz nach dem Motto: „Nichts ist grausamer als die Realität“. Wer feinen Krimigenuss mit subtilem Kopfkino sucht, ist hier vollkommen falsch. Es geht nicht um Fantasie, sondern um knallharte Realität. Die große Stärke zieht dieser Thriller aus zwei Aspekten: Zum einen werden immer wieder Kapitel aus der Sicht des Mörders beschrieben, auch wenn die Autoren das nur in der personalen Erzählweise machen. Auf diese Weise kann der Leser sowohl sehr „anschaulich“ die Morde aus der Perspektive des Täters miterleben, als auch sein Motiv dazu nachvollziehen.
Zum anderen hat man als Leser immer im Hinterkopf, dass es sehr ähnliche Fälle in der Realität gegeben hat. Liest man den Thriller als Roman, so muss man als Leser unweigerlich angewidert sein. Es wird weder bildlich noch sprachlich an Brutalität, Grausamkeit und Obzönitäten gespart. Dies wird vielen sicherlich kein Lesevergnügen bereiten. Liest man den Thriller aber eher sachlich in Form eines Tatsachenromans, so bekommt man einen exzellenten und genauen Einblick in die Psyche des Täters.
Fazit:
Axel Petermann und Claus C. Fischer liefern mit „Die Diagramme des Todes“ einen True-Crime-Thriller, der sicherlich nichts für schwache Nerven ist. Der Roman punktet aber mit einer tiefergehenden Analyse der Gedankenwelt des Täters und einer wirklichkeitsnahen Ermittlungsarbeit. Im aktuellen Buch geht es vorwiegend um zwei Fragen: Was lässt einen Menschen zum Monster werden, und was macht das auch mit dem ermittelnden Kommissar? Mit dem Wissen, dass mit Axel Petermann ein erfahrener Profiler am Werk war, der seine Erfahrung aus realen Fällen einfließen lässt, wirkt die Handlung sehr authentisch und löst sich damit stärker von der Vorstellung, nur ein Roman zu sein. Man muss die Realität und deren Grausamkeit aber auch ertragen können.
Axel Petermann, Claus Cornelius Fischer, Knaur
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