Der Kreis aller Sünden
- Knaur
- Erschienen: September 2019
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Übersetzt von Knut Krüger
Tod im Teer und andere Rache auslösende Dramen
Lange wurde in der Fabrik Dachpappe hergestellt, doch nun steht sie schon lange leer. Unter den Bewohnern der norwegischen Kleinstadt Hammerdal wird gemunkelt, dass es dort spukt, nachdem Ende der 1970er Jahre ein Arbeiter in einen Kessel mit kochendem Asphalt stürzte und elend umkam. Die genauen Umstände wurden vertuscht, denn die mächtige Eigentümer-Familie Meyer kündigte den Verlust zahlreicher Arbeitsplätze an, sollte allzu genaue Ursachenforschung betrieben werden.
Knapp vier Jahrzehnte später sind die alten Gebäude zum Treffpunkt für Obdachlose und Junkies geworden. Unter den Jugendlichen gilt es als Mutprobe, sich dorthin zu begeben, wo der „Teermann“ umgehen soll. Die Freunde Nicolai, Ann, Victor und Helene wagen den Nervenkitzel. Als sie sich in einer Winternacht in die Fabrik schleichen, werden sie allerdings beobachtet: Außenseiter Morton, den man meist „Streuner“ nennt, wird erwischt und als ‚Strafe‘ in einen Kellerraum eingesperrt.
Als die vier Jugendlichen sich endlich daran erinnern und den geschockten „Streuner“ freilassen, haben sie einen gefährlichen Fehler begangen: Mortons Vater ist der Soziopath Frank Nitter, der vor Jahren seine Ehefrau grausam ermordet hat; die Leiche wurde nie gefunden. Vor einiger Zeit wurde Nitter entlassen, doch er ist keineswegs ‚geheilt‘, sondern weiterhin von seiner ‚göttlichen Mission‘ überzeugt und wütend über die Schmach, die seinem Sohn angetan wurde.
Kurz darauf sind Victor, Ann und Nicolai verschwunden. Anns Vater Bjørn Lindbeck, Leiter der Abteilung für verdeckte Vermittlungen, vertraut nicht auf seine Polizei-Kollegen allein, sondern fahndet auch privat. Dabei stößt er auf die Spuren sehr aktueller, aber auch alter, dennoch weiterhin gefährlicher Verbrechen. Sind Ann und ihre Freunde zufällig Zeugen eines großen Drogendeals geworden? Hat Nitter sie entführt? Gibt es den „Teermann“ tatsächlich? Wochen vergehen, bis erst Victor und Nicolai tot und Ann schwerverletzt und gedächtnislos wieder auftauchen. Lindbecks Suche nach der Wahrheit führt zur Entdeckung, dass auch er in die Geschehnisse verwickelt ist …
Skandinavisches Krimi-Drama: die ganz große Show
Die Welt ist schlecht - und nirgendwo wird dies deutlicher als in jenen Krimis, die in Skandinavien entstehen. Es mag an der langen winterlichen Dunkelheit liegen, dass zumindest die Autoren solcher Werke ihren Blick am liebsten in die finsteren Tiefen der menschlichen Seele richten. Hinzu kommt ein generelles Misstrauen, das sich gegen jegliche Obrigkeit richtet, die als machtversessen, bürgerfeindlich und korrupt gezeichnet wird; schlimmer sind nur Großkonzerne, die für jede Unmenschlichkeit gut sind.
„Der Kreis aller Sünden“ ist ein passender Titel, denn wir finden sämtliche Stärken (und Klischees) wieder. Knapp 600 Seiten geben reichlich Raum für nicht nur einen, sondern gleich mehrere Plots, die Verfasser Damhaug erstaunlicherweise miteinander zu verknüpfen weiß, obwohl die Zusammenhänge nicht gerade dafür sprechen. Dieser Roman ist komplex; die Handlung spielt auf mehreren Ebenen gleichzeitig, wobei auch die chronologische Ordnung gern ignoriert wird. Boshaft könnte man dies als Versuch bezeichnen, die Leser möglichst lange ratlos zu halten; eine Argument dafür ist zweifellos die nach der Lektüre deutliche Erkenntnis, dass minus aller stilistischen Tricks recht simpel ist, was uns erzählt wurde.
Objektiv betrachtet ist dies jedoch das Privileg und die Aufgabe eines Schriftstellers. Dafür spricht die Tatsache, dass wir in der Tat lange raten müssen, was eigentlich geschieht, uns dies aber gefallen lassen, weil Damhaug seine Leser mit spannenden Andeutungen ködert sowie mit drastischen Handlungseinschüben nicht geizt. Es soll zwar tiefenpsychologisch bedeutsam sein, was da vorgeht, doch das heißt für Damhaug keineswegs, dass mit Blut, abgeschnittenen Fingern oder „Psycho“-inspiriertem Irrsinn gespart werden müsste.
Fundament deines Lebens - oder Mühlstein um deinen Hals
Die Familie: Sie gilt als Keimzelle der Gesellschaft, kann aber zur Quelle jeglichen Unrechts werden, das umso hässlicher dort gedeiht, wo man sich umeinander kümmern sollte, statt einander zu ignorieren, zu verletzen oder gar zu missbrauchen. Auch hier dreht Damhaug am ganz großen Rad. Fünf Familien stellt er uns vor, die quasi Modell für alles stehen, was in diesem Umfeld schiefgehen kann.
Überhaupt scheint es überhaupt keine glücklichen oder wenigstens zufriedenen Menschen im Norden zu geben; Damhaug klammert sie auch im außerfamiliären Umfeld systematisch aus. Jede/r hat Dreck am Stecken, und zu allem Überfluss tun sich Verbindungen auf, die sich insgesamt zu einem Spinnennetz entwickeln, in dessen Maschen die Protagonisten zappeln. Das mag die Glaubwürdigkeit strapazieren, wirkt aber immerhin plausibel in der alles erfassenden Tristesse, die der Autor sowohl über seine Figuren als auch über seine Leser kommen lässt.
Verdrängen, lügen, intrigieren: In „Game of Thrones“ geht es höchstens blutiger, aber keineswegs lebhafter zu. Das schließt Bjørn Lindbeck ein, der zwar verbissen ermittelt, letztlich jedoch längst nicht die ganze Wahrheit ans Licht bringt und auf seinem Irrweg zur Lösung als Polizist, Vater und Ehemann (sowie als Freund, Kollege, Schwiegersohn etc.) nicht unbedingt scheitert, jedoch auch nie triumphiert: In Kriminalromanen wie diesem ist der Moment der Erkennen mit dem Blick zurück auf die alttestamentarische Stadt Sodom vergleichbar: Zumindest die Seele unseres ‚Helden‘ erstarrt zur Salzsäule.
Was sonst los ist
Kleine Ursache - große Wirkung: Das alte Sprichwort wird auf eine Weise umgesetzt, die den Protagonisten in den Spielbällen eines Schicksals verwandelt, das beschlossen hat, Hammerdal zusätzlich zumindest zeitweilig als Kristallisationspunkt des globalisierten Verbrechens zu präsentieren. Autor Damhaug scheut wirklich keine Mühe, uns in die Irre zu führen. Der „Kreis aller Sünden“ verwandelt sich u. a. in einen Thriller, der internationalen Rauschgifthandel nach Hammerdal verlegt sowie einen jener globalkriminellen Konzern-Tycoons aktiv werden lässt, die sonst von James Bond gejagt werden. Korruption in höchsten Regierungs-, Justiz- und Polizeikreisen wird angedeutet, was für allzu neugierige Ermittler (Bjørn Lindbeck) oder zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort befindliche Zeugen-Pechvögel (Ann und ihre Freunde) tödlichen enden kann.
Ein wenig eingedampft = auf Hammerdal beschränkt hockt ein ähnlicher Krake über den Ereignissen. Die Industriellen-Familie Meyer geht für Geld und Macht notfalls über Leichen, was Schwächlinge aus den eigenen Reihen einschließt. Abgerundet wird dies durch Gefühlskälte und Wahnsinn, womit sich der „Kreis aller Sünden“ abermals schließt: Auch wer mit dem Leben davonkommt, ist keineswegs glücklich oder erlöst, sondern muss feststellen, dass es Gerechtigkeit nicht mehr gibt.
Fazit:
Auf der Suche nach der entführten Tochter stößt ein Vater gleich in mehrere Wespennester. Die Folgen beschreibt Verfasser Damhaug in allen möglichen - und einigen weniger plausiblen - Varianten und entfesselt einen Wirbelsturm aus Kapitalkriminalität, Irrsinn und Familientragödien: In einzelnen Handlungssträngen spannend, aber in der Häufung übler Taten insgesamt überladen.
Torkil Damhaug , Knaur
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