The Chain
- Knaur
- Erschienen: September 2019
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Übersetzt von Anke Kreuzer und Eberhard Kreuzer
Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd’ andre an!
Ein jeder hat sie vermutlich schon einmal erhalten: Kettenbriefe, an und für sich ganz amüsant, einige mit Kochrezepten, andere mit netten Botschaften, viele aber mit fiesen Drohungen, was nämlich passiert, wenn man die Kette unterbricht und die Dinger nicht an mindestens drei bis zehn andere Personen weiter leitet. Gerne untermalt mit lebendigen Beispielen: Herbert M. aus K. unterbrach diese Kette und sitzt bis heute im Knast. Hier erkennt man immer recht gut, wen man aus dem Freundeskreis langsam mal aussortieren kann.
Bei der von Adrian McKinty beschriebenen KETTE – mit besonderer Dramatik der GROSSSCHREIBUNG - ist das Aussteigen aber nicht so ohne weiteres möglich. Denn Ausgangspunkt der Kette ist nicht etwa eine E-Mail, sondern die Entführung deines Sohnes oder deiner Tochter. Verbunden ist dieses Verbrechen einerseits mit der brutalen aber – in diesem Zusammenhang nicht ungewöhnlichen – Forderung nach Lösegeld und der neuen Forderung danach, dass auch das jetzige Opfer ein weiteres Verbrechen begehen muss, andernfalls es sein Kind nie wieder sehen wird.
Opfer werden zu Tätern…
Grundsätzlich mag diese Idee der neuen Form der Kette eine spannende sein. Ein Entführer ist nicht damit zufrieden, dass sein Konto dank der Lösegeldzahlung verzweifelter Angehöriger einen erfreulichen Aufwärtstrend erfährt. Nein, die Opfer des Verbrechens werden auch zusätzlich in andere Straftaten genötigt, gedemütigt und in eine permanente Atmosphäre von Angst versetzt. Eine wie auch immer geartete Staats- oder Ordnungsmacht, die hier möglicherweise zu Hilfe gezogen werden könnte, scheint nicht zu existieren. Warum das so ist, warum die Polizei zwar immer dann auftaucht, wenn es die Täter oder Opfer nicht brauchen können, aber offensichtlich den Tag ansonsten mit Nasebohren verbringt, zeigt, dass Amerika offensichtlich kein sonderlich großes Vertrauen in seine Ordnungshüter hegt.
Dazu kann auch nur die Erkenntnis kommen, dass es Sinn macht, lieber selber die eigene Pistole aus der Schublade zu kramen und das Recht in die Hand zu nehmen. Inwieweit dieses Szenario in irgendeiner Art und Weise glaubhaft sein könnte, erschließt sich hier nirgends. Denn wenn vorausgesetzt wird, dass die Kette immer weitere Opfer geriert, dürfte die Gegend um Boston herum von schweigenden Entführungsopfern und deren Familien nur so wimmeln – ohne dass auch nur einer mal irgendwo den Mund aufgemacht hat. Davon abgesehen dürfte aber auch die Zahl der Kollateral-Opfer nicht niedrig sein, erfährt der Leser schon auf den ersten Seiten, dass zumindest ein Polizist doch einmal das Sudoku beiseite legte, eine Kontrolle durchführte und prompt erschossen wurde. Kurioserweise führt das aber nicht zu Fahndungen, denn normalerweise schätzt es die Polizei nicht, wenn ihre Vertreter so aus dem Dienst entfernt werden. Nein, auch hier scheint es eher so zu sein, dass sie den Kollegen stillschweigend in einem Vorgarten verscharrt und beschlossen hat, Gras über die Sache wachsen zu lassen.
Alleinerziehende Mutter ist mit sämtlichen Plagen der Neuzeit geschlagen
Selbst wenn man jetzt einmal die Frage von Logik oder Nichtlogik beiseite legt, ist es schwierig, Sympathien für das hier beschriebene Opfer oder die Täterin Rachel zu finden. Sie, die alleinerziehende Mutter, ist mit sämtlichen Plagen geschlagen, die in der Neuzeit denkbar sind – Ehemann mit einer deutlich jüngeren abgehauen, Krebs wieder aufgetaucht, kein Geld, keine vernünftige Berufsausbildung und so weiter und so fort. Schlimm, schlimm – dennoch hat wohl niemand so recht Verständnis dafür, wenn das Sankt-Florians-Prinzip oder überhaupt die „Mir-alles-egal-Hauptsache-meinem-Kind-geht es-gut“-Haltung aller Helikopter-Eltern so eklatant durchexerziert wird. McKinty lässt seine Heldin so agieren, als käme jedes andere Kind mit einer guten Runde Schlaf und ein bisschen Ablenkung ohne jedes Problem über eine kleine Entführung hinweg – wogegen das eigene Kind plötzlich so traumatisiert erscheint, dass sogar ein Suizid denkbar ist.
Immerhin, wer die Geschichte über die hanebüchene Entführung des Teenager Kylei und das folgende Verbrechen ihrer Mutter – wenn auch gequält – durchgestanden hat, dem eröffnet sich im zweiten Teil die etwas angenehmer zu lesende und spannendere Suche nach den Urhebern der Kette und den Verstrickungen die zu dieser Organisation führten. Glaubwürdiger wird die Geschichte damit nicht zwingend, aber wenigstens muss sich der Leser nicht über Rechtfertigungen armer Eltern ärgern, die das Schicksal ihres Kindes beweinen, deren Tränen aber fix trocknen, wenn es darum geht, das selbe einem anderen Kind angedeihen zu lassen.
Überraschen muss auch, dass der Autor, der ansonsten durch offensichtlich gut
durchdachte Krimis über seinen „katholischen Bullen“ Sean Duffy eine große Leserschaft begeistern konnte, sich für so einen unausgegorenen Unsinn hergibt. Wenn man den verschiedenen Kommentaren glauben will, dürfte er mit der Kette auch einen Großteil seiner Stammleserschaft ernsthaft vergrätzt haben. Glaubt man aber andererseits der Berichterstattung im „Spiegel“ wurde durch dieses Buch ein gewisser finanzieller Engpass im Hause McKinty erfolgreich beendet - und das erklärt ja dann auch schon einiges.
Fazit:
Wer sich jetzt fragt, warum immerhin noch 60° vergeben werden, so ist das dem Umstand geschuldet, dass McKinty seine Geschichte trotz aller Klischees und wirklichkeitsferner Konstruktionen flüssig konstruieren kann und immerhin auf Langatmigkeiten verzichtet. Unglücklicherweise reicht das aber nicht aus, um einen lesenswerten, intelligenten Krimi zu erschaffen. Da sollte er seinen Lesern doch schon ein wenig mehr zutrauen.
Adrian McKinty , Knaur
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