Feindesland
- Heyne
- Erschienen: Januar 2020
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übersetzt aus dem Englischen von Christine Naegele
Originaltitel: Dominion
Vereintes Europa unter nazideutscher Führung
Nachdem der nazideutsche „Blitzkrieg“ Frankreich überrollt hat und die Briten bei Dünkirchen in die Flucht geschlagen wurden, knickten Hitlers Gegner im Westen ein. Ein zweiter Weltkrieg hat nie stattgefunden. Stattdessen ist Großbritannien zu einem Vasallenstaat herabgesunken, dessen Regierung sich immer weiter auf die Seite der Nazis ziehen lässt. Aktuell, also 1953, wird die Deportation der englischen Juden vorbereitet, die bisher in fragwürdiger Sicherheit gelebt haben.
Das Nazi-Regime kämpft mit existenziellen Problemen. Der Krieg gegen die Sowjetunion tobt ergebnislos und lässt das „Dritte Reich“ buchstäblich ausbluten. Der sterbenskranke Hitler wird ein politisches Chaos hinterlassen. Wehrmacht und SS kämpfen bereits um die Vorherrschaft nach seinem nahen Tod. In den USA mehren sich die Stimmen, die ein Ende des bisher betriebenen Isolationismus und ein Eingreifen in Europa fordern.
In England hat sich wie im besetzten Frankreich eine Widerstandsbewegung namens „Resistance“ etabliert. Sie rekrutiert den Regierungsbeamten David Fitzgerald, der es nicht mehr erträgt, dass die Nazis im Bund mit führenden Köpfen Englands die Demokratie untergraben. Als Fitzgerald einen Fehler begeht, erregt er die Aufmerksamkeit der auch in England gefürchteten Gestapo. Aus Deutschland ist Sturmbannführer Gunther Hoth angereist, der sich als ‚Judenjäger‘ einen Namen gemacht hat. Er soll den Nazis helfen, endlich den untergetauchten und weiterhin im Widerstand aktiven Winston Churchill und die antideutschen Kräfte überhaupt auszuschalten.
Fitzgerald muss flüchten und seine ahnungslose Gattin Sarah zunächst zurücklassen. Bevor er sich in die USA absetzt, soll er einen alten Schulfreund befreien: Frank Muncaster hat zufällig vom streng geheimen Atomwaffen-Projekt der USA erfahren. Die Nazis wissen davon, weshalb Fitzgerald und seine wenigen Gefährten schnell handeln müssen …
Wenn Winston nicht gewesen wäre …
Alternative Geschichtsentwürfe gab es schon vor der Erfindung der Science Fiction. Historiker reiten als Steckenpferd die Frage, was geschehen wäre, hätte ein Ereignis nicht stattgefunden. In der Tat stand es in der Vergangenheit immer wieder Knopf auf Spitz; die Waagschalen der Geschichte hätten sich bei nur marginaler Veränderung der Situationsbedingungen auf der anderen Seite senken können. Über die Folgen kann nach Herzenslust und oft unter Einsatz erstaunlichen intellektuellen Aufwands diskutiert werden.
Verständlicherweise gehört der nazideutsche „Blitzkrieg“ und der historische Weg dorthin zu den Lieblingen solcher Alternativ-Historiker. Heute meint man zu wissen, wie man dem Nazi-Wahnsinn Einhalt hätte bieten können und sollen: Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Zu denen, die sich diesbezüglich die Köpfe zerbrechen, gehören die Briten. Für sie hätte der Krieg schon im Juni 1940 nach der Niederlage von Dünkirchen zu Ende sein können, wäre daheim nicht Winston Churchill energisch gegen einen Frieden mit dem „Dritten Reich“ aufgetreten.
C. J. Sansom hakt hier ein und schildert ein England, das sich stattdessen in die Knie zwingen ließ. Oberflächlich ist „Feindesland“ ein Historien-Thriller, doch eigentlich schwebte dem Verfasser etwas Ehrgeizigeres vor: das Psychogramm einer Gesellschaft, die nach mehrjähriger Zusammenarbeit mit den Nazis vor dem moralischen Ruin steht.
Hässliche Entscheidungen im vorgeblichen Dienst am Volk
Sansom fügt seinem ohnehin seitenstarken Werk gleich zwei Nachworte an. Er legt die Quellen offen, auf die er sich in seiner Fiktion stützt, die nach dem Willen des Autors der alternativen Realität so nah wie möglich kommen soll. Hinzu kommt ein Manifest, in dem sich Sansom leidenschaftlich über die aktuelle Wiederkehr nationalistischer Umtriebe auslässt. „Feindesland“ soll vor dieser Entwicklung warnen. Rassenwahn und -hass sind Motive, die Sansom auch in England erstarken sieht. „Dominion“ erschien dort 2014 und damit vor dem sich schon ankündigenden Brexit. Deshalb nimmt er sich viel Zeit, um vor dem Hintergrund eines nazi-nationalistisch geprägten Alltags darzustellen, wohin ein solcher Irrweg führen kann.
In dieser Hinsicht leistet Sansom ausgezeichnete Arbeit. Bis ins kleinste Detail stellt er uns dieses alternative England sowie Europa vor. Gerade der weitgehende Verzicht auf einschlägige Nazi-Klischees sorgt für Unbehagen: So hätte es tatsächlich geschehen können, und so könnte es noch kommen, wenn nicht der nationalistische Pöbel das Sagen hat, sondern von jenen ebenso intelligenten wie skrupellosen Verführern instrumentalisiert wird, die sich glattzüngig als Retter in einer kompliziert gewordenen Welt präsentieren. Klug verzichtet Sansom auf grelle Auftritte alternder Nazi-Prominenz; der moribunde Hitler und seine Schergen finden nur Erwähnung. Überzeugend konzentriert der Autor sich auf den Apparat, also jene pflichtbewussten Beamten, Soldaten, Polizisten, Menschenjäger, Folterknechte und Denunzianten, die das Regime im Alltag funktionieren ließen.
Seinen Landsleuten stellt Sansom kein gutes Zeugnis aus. Zu offenen Anhängern und Nutznießern des nazidurchsetzen Regimes gesellen sich Mitläufer sowie die schweigende Mehrheit, die nicht sieht bzw. nicht sehen will, dass die jüdischen Mitbürger systematisch entrechtet und schließlich deportiert werden. Stattdessen ist man froh, die nie akzeptierten Fremden loszuwerden. Man begleicht alte Rechnungen und freut sich über jüdisches Eigentum, das man sich aneignen darf. Eventuelles Unbehagen blendet man aus: Schließlich trägt die Regierung die Verantwortung; was kann man da schon machen?
Die Stimme der Vernunft
David Fitzgerald und eine Reihe weiterer Widerständler stehen für das ‚anständige‘ England, das sie unter Einsatz ihres Lebens verteidigen und retten wollen. Sansom schildert sie als normale Bürger, die in der Krise widerwillig akzeptieren müssen, dass sie das Schicksal in unruhige Gewässer geworfen hat. Leider generiert dies nur eine Serie recht beliebiger Figuren, deren seelisches Rumoren doch wieder „Casablanca“-Klischees widerspiegeln.
Eine ohnehin schwache Primärhandlung, die nicht annähernd über 750 Buchseiten tragen kann, wird immer wieder durch ellenlange Rückblenden unterbrochen. Sansom möchte die europäische Geschichte zwischen 1945 und 1953 an den Biografien seiner Hauptfiguren festmachen, um ihr damit Gesichter zu geben. Er übertreibt es einerseits, während er andererseits nicht gerade ein Talent für tragische/dramatische Gefühle an den Tag legt.
Nachdem Sansom das Panorama von 1953 aufgerollt hat, bleibt ihm noch zu erzählen, wie es Fitzgerald, Sarah und einigen anderen Flüchtlingen ergeht. Dies mündet in ein beliebiges Final-Treffen von Gut und Böse, dem das obligatorische Feuergefecht folgt, nachdem noch Zeit genug für dogmatische Wortgefechte blieb.
In seiner Plötzlichkeit ebenso wenig plausibel ist der als Epilog nachgelieferte Zusammenbruch des Nazi-Reiches. Nach vielen, vielen Lektürestunden bleibt ratlose Unzufriedenheit: Falls dies ein Thriller sein soll, erstickt er in überbordender Detailfülle, die durchaus in Schwafelei übergehen kann. Zu bewundern bleibt das deprimierend einleuchtende Bild eines Englands, das ebenso korrumpiert ist wie andere Länder, die mit den Nazis zusammengearbeitet haben.
Fazit:
Stimmungsstark, aber handlungsarm entwirft Autor Sansom einen alternativen Geschichtsverlauf, der England erschreckend plausibel als Nazi-Satellitenstaat zeigt. Während die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Konsequenzen eindrucksvoll dargestellt werden, dient die Kernstory nur als roter Faden. In den Figurenzeichnungen geht der Autor allzu sehr ins Detail, was für Längen in einem ohnehin umfangreichen Roman sorgt.
Christopher J. Sansom, Heyne
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