Ich weiß, wo sie ist
- HarperCollins
- Erschienen: Dezember 2018
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Eine verzweifelte Mutter gegen den Rest der Welt
Im Klappentext heißt es, dass S.B. Caves Horrorfilme liebt. Das merkt man seinem Erstlingswerk an. Das Thema ist so grauenhaft und erschreckend, aber gleichzeitig nicht aus der Luft gegriffen. Wer Kindesmissbrauch und -entführung als Motiv nicht aushält, sollte die Finger von diesem Buch lassen.
Spannend, aber vorhersehbar
Gleich mit dem ersten Satz hat der Autor den Leser am Wickel. Mit Auffindung der kryptischen Botschaft „Ich weiß, wo sie ist“ beginnt Francines verzweifelter Kampf um das Auffinden ihrer Tochter, die als Kleinkind vor zehn Jahren spurlos verschwunden ist. Doch, was so verheißungsvoll beginnt, wird schnell sehr durchschaubar.
Die Frage ist nicht mehr, ob Autumn noch lebt, sondern, ob sie und ihre Mutter ihre Aktionen überleben und wieder vereint werden. Die Spannung ergibt sich also weniger aus der Unsicherheit, was mit der verschwundenen Tochter geschehen ist, als viel mehr aus der Suche nach ihr und ihrer Rettung.
Francine mutiert zu Superwoman
Als Mutter ist es der absolute Alptraum, wenn dem Kind etwas passiert, und eine Entführung ist der Gipfel dieses Horrors. Deshalb ist Francines Verzweiflung und ihr daraus resultierender Alkohol-Missbrauch durchaus nachvollziehbar. Sie durchlebt zehn Jahre lang die Hölle. Bewundernswert ist, dass sie sich selbst aus dem Sumpf befreit und zumindest halbwegs einem geregelten Leben nachgehen kann.
Doch was nach dem Erhalt der Botschaft mit ihr passiert, ist übertrieben krass. Francine mutiert von einer psychisch labilen, durchtrainierten Alkoholikerin zu Superwoman. Sie kennt keine Skrupel mehr, wird zur Diebin, geht über Leichen, und Schmerzen steckt sie weg wie Streicheleinheiten. Es wird immer behauptet, Mütter sind wie Löwinnen, aber eine solche Wandlung ist dann doch etwas weit hergeholt - und nimmt der Geschichte viel an Glaubwürdigkeit.
Umsetzung der Idee ist nicht durchgängig gelungen
Der Text ist aus verschiedenen Perspektiven geschrieben, was ihn für den Leser abwechslungsreicher macht, aber Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten mindern den Lesespaß. So wird aus Sycamore auf einmal Syracuse, ein Allradfahrzeug bleibt im Schlamm stecken, vernachlässigte Kinder können lesen und schreiben, und ein Vater gibt für den schnöden Mammon seine Tochter auf.
Dazu führen die stets wenig durchdachten Handlungen Francines wirklich immer zum Ziel, auch wenn sie oft nur durch sagenhafte Zufälle nicht zur Katastrophe werden. Das kann ja einmal ganz gut zu lesen sein, aber die Häufung der Glücksfälle ist eher ermüdend.
Leichte Irritationen kommen auch bei der Darstellung Autumns auf. Sie ist als Kind in die Fänge der skrupellosen Kinderschänder geraten, aber sie und scheinbar auch die anderen Mädchen können, wie schon erwähnt, lesen und schreiben. Bewundernswert ist ihr Durchhaltevermögen, aber ihr Charakter ist überzeichnet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass solche Qualen so spurlos an einem Menschen vorbei gehen können, wie es hier geschildert ist.
Die Idee von einer weitreichenden Organisation, die Kinder entführt, missbraucht und zu noch mehr Grausamkeiten fähig ist, ist entsetzlich, aber auch eines Thrillers würdig. Nur sollte dann die Schilderung nicht zu sehr ins Unwahrscheinliche abgleiten, um eben mit diesem diffizilen Thema angemessen umzugehen.
Ein Ende mit vielen offenen Fragen
Zum Schluss dreht der Autor noch mal richtig auf. Hier wird so ziemlich alles aufgefahren, was irgendwie ins Bild passt und Spannung erzeugen könnte. Manchmal wäre etwas weniger mehr gewesen, sonst läuft der gute Wille Gefahr zum Slapstick zu werden. Und ob es nach all diesen Hindernissen wirklich ein Happy End gibt, ist auch nicht genau zu sagen.
Zu viele Fragen bleiben offen. Es werden Andeutungen gemacht, die auf einen Folgeband hinweisen könnten, aber gleichzeitig ist die Geschichte dafür doch nicht offen genug. Als Leser steht man halb glücklich und halb unglücklich da, weil es eben nicht wirklich gut und nicht wirklich schlecht ausgeht.
Fazit:
So grausam die Vorstellung von entführten, jahrelang gefangen gehaltenen und missbrauchten Mädchen auch ist, leider kann es Realität sein. Bei der Lektüre des Buches habe ich mich oft an den Fall des britischen Talkmasters Jimmy Savile erinnert gefühlt. Ob S.B. Caves ihn wirklich im Sinn hatte, kann ich nicht sagen, aber die Beschreibung von Glenn Schilling ähnelt ihm doch sehr.
Das Buch ist gut zu lesen und auch spannend, keine Frage, aber dennoch hatte ich mir mehr versprochen. Es ist einfach zu vorhersehbar, und manchmal auch einfach zu übertrieben. Wenn man sich allerdings einen Thriller wünscht, den man zwischendurch auch mal aus der Hand legen kann, ohne dann doch ständig an ihn denken zu müssen, dann sollte man es mit „Ich weiß, wo sie ist“ probieren.
S. B. Caves, HarperCollins
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