Tödliche Tristesse in der schwedischen Provinz
Charlie Lager von der Stockholmer Polizei wird nach Gullspang geschickt um das Verschwinden der siebzehnjährigen Annabelle zu untersuchen. Was niemand weiß, Charlie ist in Gullspang aufgewachsen und hat keine besonders schönen Erinnerungen an diese Zeit. Zusammen mit ihrem Kollegen Anders Bratt muss sie sich Lügen, Geheimnissen und ihrer Vergangenheit stellen, um Annabelle zu finden.
In der schwedischen Provinz geht es den Bach runter
Das einzige, was man in Gullspang idyllisch nennen kann, ist die Lage an Fluss und See. Alles andere ist marode und heruntergekommen. Aufgegebene Geschäfte, eingeschlagene Fensterscheiben, leerstehende Häuser prägen das Bild der Kleinstadt. Die Industrie ist weitgehend abgewandert, die Bevölkerung auf die Beschäftigung des einzig verbliebenen Betriebes angewiesen. Wen wundert es da, dass schon die Jugendlichen keinen anderen Ausweg sehen, als möglich schnell, möglichst weit weg von Gullspang zu kommen.
Die Zeit bis dahin überbrücken sie mit Drogen und ihren Frust ertränken sie im Alkohol. Gullspang ist keine Erfindung, es ist eine sehr reale Stadt im Süden Schwedens. Lina Bengsdotter ist dort aufgewachsen. Es ist also anzunehmen, dass ihre Schilderung des Ortes nicht zu sehr von der Realität abweicht. Wer also an eine schwedische Provinz mit trachtentragenden, fröhlich um den Mittsommerbaum tanzenden Gutmenschen glaubt, ist hier völlig falsch.
Astrid Lindgren mit Büllerbü war gestern. Statt dessen landet man mitten in einem Paradebeispiel-Setting des Nordic-Noir, das durch Düsternis, Auswegslosigkeit und Traurigkeit geprägt ist, und, das so wohl keine Illusion und kein Einzelfall in Schweden ist.
Charlie – eine Ermittlerin mit Vergangenheit
Charlie Lager ist ein komplizierter Charakter. Hochintelligent hat sie eine Blitzkarriere hingelegt. Die Schule hat sie im Schnelldurchlauf hinter sich gebracht, das Studium in Psychologie in drei Jahren abgehakt und mit zwanzig die Ausbildung an der Polizeihochschule begonnen. Es ist also kein Wunder, dass sie für die Männerriege bei der Stockholmer Polizei als Vorgesetzte zu jung und „zu Frau“ ist.
Doch sie hat sich arrangiert, will sich weiterentwickeln und Karriere machen. Dieses Bild der abgeklärten Businessfrau mit harter Schale zeigt sie allen, die mit ihr zu tun haben. Ihre Vergangenheit hat sie in ihrem Inneren weggeschlossen. Probleme ertränkt sie in Alkohol, Sex ist nur Mittel zum Zweck und Beziehungen geht sie aus dem Weg, vor allem nach einem Desaster mit einem verheirateten Kollegen.
Einzig mit Anders Bratt kommt sie gut klar, der nimmt sie so, wie sie ist, ohne männliche Überheblichkeit und blöde Sprüche. Mit dieser Protagonistin muss der Leser erst einmal warm werden. Auf der einen Seite ist sie mit ihrem unsteten Lebenswandel egoistisch unsympathisch, aber auf der anderen doch einfühlsam und verletzlich. Wenn dann ihre Vergangenheit im Laufe der Geschichte immer mehr thematisiert wird, schlägt das Empathie-Barometer stetig mehr zu ihren Gunsten aus.
Denn, sobald Charlie gezwungen ist in Gullspang zu ermitteln, muss sie sich ihrer Vorgeschichte stellen. Sie trifft auf Personen ihrer Kindheit, findet sich in alten Beziehungsgeflechten wieder und muss feststellen, dass ihre Vergangenheit mit der Gegenwart und dem Verschwinden von Annabelle zusammen hängt und, dass lang Geschehenes große Auswirkungen auf die Gegenwart hat.
Eine gute Geschichte mit einem banalen Ende
Das gut geschilderte düstere Setting ist Schauplatz für einen ebenso düsteren Thriller. Annabelle ist seit Tagen verschwunden. Ihre Eltern sind natürlich in großer Sorge und befürchten das Schlimmste. Ganz langsam lässt die Autorin den Leser in die Geschichte abtauchen. Stück für Stück wird das ganze Ausmaß der Katastrophe offenbar. Die Verstrickungen weiten sich aus und haben Konsequenzen für so manchen in Gullspang und für die Ermittlerin Charlie erst recht.
Was als Aufklärung für Annabelles Verbleib präsentiert wird, ist banal. Doch darauf kommt es gar nicht an. Hier geht es um den Weg in den Abgrund, um den Abgrund selbst und nicht um den finalen Punkt. Hier wird das Leben in einer trostlosen schwedischen Kleinstadt zerpflückt, bis nur noch Leere bleibt. Als Nebenprodukt wird Charlie, die neue Protagonistin am schwedischen Krimi-Himmel vorgestellt. Nachdem nun klar wurde, warum sie so ist, wie sie ist, kann man auf den nächsten Fall mit ihr gespannt sein. Hoffentlich spielt dann auch der Fall die Hauptrolle und nicht die Vergangenheit der Ermittlerin.
Fazit:
In „Löwenzahnkind“ stimmen Setting, Plot und Charaktere. Der Schreibstil ist unkompliziert und flüssig. Dennoch hat mich die Geschichte nicht vollends begeistert. Immer hatte ich das Gefühl, dass es hier vordergründig um die Vorstellung einer Person geht, die in kommenden Büchern für Spannung sorgen soll. Der eigentliche Fall erschien mir nur als Mittel zum Zweck. Trotzdem, das Buch konnte man nur schwer aus der Hand legen, taten sich doch während der Aufklärung von Annabelles Verschwinden Abgründe auf, die immer tiefer und interessanter wurden. Lina Bengtsdotter hat mit „Löwenzahnkind“ einen typischen Nordic-Noir-Thriller geschaffen. Düster, melancholisch und manchmal traurig, macht die Geschichte dennoch Lust auf mehr von Charlie Lager. Man kann gespannt sein auf die Fortsetzung der angekündigten Reihe, auch wenn das Erscheinungsdatum des nächsten Bandes wohl noch nicht feststeht.
Lina Bengstdotter, Penguin
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