Vor deinen Augen
- Edition M
- Erschienen: Mai 2019
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Die Opioidkrise in den USA hat Einzug in die Literatur gehalten
„Vor deinen Augen“ ist der mittlerweile fünfte Band rund um Detective Tracy Crosswhite aus Seattle. Diesmal hat sie es mit einer Fahrerflucht zu tun, bei der ein 12-jähriger Junge getötet wurde. Die Spur führt zu einem Navy-Angehörigen der nahen Marinewerft, was folgerichtig die Juristen des Militärs auf den Plan ruft.
Gleichzeitig muss ihr Kollege Del Castigliano mit dem Tod seiner Nichte Allie zurecht kommen, die an einer Überdosis verschnittenem Heroins gestorben ist. Schnell kommt der Verdacht auf, dass die Fahrerflucht und die hohe Anzahl an Heroin-Toten in Seattle zusammen hängen. Als Tracy dem Täter zu nahe kommt, wird es für sie gefährlich.
Gewohnte Mischung aus Fall und privaten Problemen
Dugoni verknüpft gekonnt einen Fall für die Mordkommission mit den privaten Problemen der Ermittler. Tracy möchte gerne schwanger werden, und Del will den Verantwortlichen für Allies Tod zur Rechenschaft ziehen, damit er und seine Schwester wieder Seelenfrieden finden. Diese Schwierigkeiten machen die Protagonisten menschlich und nahbar.
Und trotzdem treten sie nicht in den Vordergrund. Da steht immer noch die Frage, wer den 12-jährigen D‘Andre überfahren hat und ihn einfach liegen ließ. Erst ganz langsam zeigt sich, dass Drogentote und Fahrerflucht miteinander zu tun haben. Berufliche und persönlich emotionale Ebenen werden zu einem Fall geflochten, in dem die Einmischung des Militärs noch einen zusätzlichen Spannungsfaktor bringt.
Aktuelles Thema in langatmiger Verpackung
Die Opiodkrise ist ein sehr aktuelles Thema, das auch in deutschen Medien immer wieder Erwähnung findet. Was in Deutschland durch ein anderes Gesundheitswesen (hoffentlich) unwahrscheinlicher ist, ist in den USA grausame Wirklichkeit. Dort wird viel zu schnell und viel zu oft das Schmerzmittel Oxycodon verschrieben, das die Kranken sehr schnell in die Abhängigkeit treibt.
Der Schritt zum Heroin ist dann nicht weit. Drogentote oder Suizide nehmen aufgrund dieser Problematik dramatisch zu. Manche sprechen sogar schon von einer Epidemie. „Vor deinen Augen“ thematisiert diesen Notstand. Dennoch kann von einem Pageturner nicht die Rede sein. Dafür wird zu oft das Problem der Zuständigkeit - Mordkommission von Seattle oder Navy - in epischer Länge durchgekaut, die Machtgerangel im Militär immer wieder enervierend ausführlich thematisiert.
Dazu häufen sich zu oft Wiederholungen von schon Geschildertem. Das nimmt der ansonsten gut konstruierten Geschichte den Schwung und der Leser muss schon einiges an Durchhaltevermögen mitbringen um bis zum Schluss am Ball zu bleiben. Wer die notwendige Ausdauer besitzt, wird mit einem Schluss belohnt, der so nicht zu ahnen war. Der Autor legt viele falsche Fährten, die alle ziemlich plausibel erscheinen, aber eben nur gut gelungene Verschleierungstaktik sind. In dem finalen Überraschungsmoment werden dann die Zusammenhänge klar, die ein düsteres Bild der Drogensituation in den USA zeigen.
Fazit:
Man muss die vier Vorgänger dieses Buches nicht gelesen haben, um diesem Thriller folgen zu können. Tracy, ihre Kollegen, die persönlichen und familiären Verhältnisse werden so gut geschildert, dass man ihre Vorgeschichte nicht unbedingt kennen muss. Es würde allerdings das Verständnis der vielen Anspielungen erleichtern.
Kenner der Reihe finden auch in „Vor deinen Augen“ eine gewohnt flüssig zu lesende Geschichte vor, die diesmal allerdings auch ihre ausgeprägten Längen hat. Ausgedehntere Lesepausen sind also kein Problem, weder für die wenig strapazierten Nerven, noch für das Wiedereintauchen ins Geschehen. Vielleicht wird der für August 2019 angekündigte nächste Tracy-Crosswhite-Thriller ja seinem Genre mit mehr Spannung gerechter.
Robert Dugoni, Edition M
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