Kritische Masse

  • Argument
  • Erschienen: Dezember 2018
  • 5
  • New York: G. P. Putnam's Sons, 2013, Titel: 'Critical mass', Seiten: 465, Originalsprache
  • Hamburg: Argument, 2018, Seiten: 544, Übersetzt: Else Laudan & B. Szelinski
Kritische Masse
Kritische Masse
Wertung wird geladen
Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2020

Vom Hakenkreuz zu Stars & Stripes

Zwischen zwei Aufträgen übernimmt Victoria Iphigenia Warshawski, Privatdetektivin in Chicago, einen Freundschaftsdienst: Dr. Lotty Hershel macht sich Sorgen um die Tochter einer Bekannten aus Kindheitstagen. Käthe Saginor - jetzt Kitty Binder - ist alles andere als eine Freundin, gehört aber zu den wenigen jüdischen Bekannten, die wie Hershel vor dem Zweiten Weltkrieg aus dem von den Nazis besetzten Österreich flüchten konnten. Lucy, Kittys Tochter, ist hoffnungslos drogensüchtig. Bisher ließ sie sich hin und wieder blicken, um Hilfe oder Geld zu erbetteln. Nun ist sie verschwunden.

Am letzten bekannten Aufenthaltsort findet Warshawski eine zerstörte Drogenküche - und eine (männliche) Leiche. Kitty interessiert sich nicht für ihre Tochter, doch zeitgleich mit Lucy ist deren Sohn Martin abgetaucht, der bei der Großmutter gelebt hatte. Martin hat nach der kryptischen Ankündigung, sich um eine Familienangelegenheit kümmern zu müssen, systematisch alle Brücken hinter sich abgebrochen.

Warshawskis Nachforschungen führen sie nicht nur dorthin, wo man auf potenzielle Drogenermittler sofort das Feuer eröffnet, sondern auch tief in eine düstere Vergangenheit. Die Saginors sind sowohl Überlebende als auch unliebsame Zeugen eines ‚legalisierten‘ Verbrechens: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden deutsche Wissenschaftler heimlich in die USA geschafft, wo sie an der Entwicklung moderner Raketen und Kernwaffen mitwirkten. Viele Kriegsverbrecher entgingen so ihrer Strafe und stiegen später zu reichen, geachteten Geschäftsleuten auf.

Dieses zwielichtige Kapitel der US-Geschichte würde die Regierung gern in Vergessenheit geraten lassen. Da Warshawski wie üblich tief und hartnäckig gräbt, sind bald nicht nur Drogendealer, sondern auch korrupte Polizisten, der Heimatschutz und die Schergen eines prominenten Firmen-Tycoons hinter ihr her, um zu verhindern, dass (brauner) Schmutz aufgewirbelt wird …

Früher braun, dann strikt gegen rot

„Persilscheine“ nannte man nach dem Zweiten Weltkrieg jene Erklärungen, dass dieser oder jene während des „Dritten Reiches“ nicht zu denen gehörten, die Menschenrechte  mit Füßen getreten hatten. Solche Zeugnisse waren wichtig, denn die alliierte Besatzungsmacht sorgte dafür, dass Nazis aus Regierung, Verwaltung, Wirtschaft etc. entfernt wurden und keine hohen Ämter mehr innehaben durften. Nur: Wer war ein „Nazi“? Die Definitionen unterschieden sich je nach Standpunkt beträchtlich: Die Opfer des zwölfjährigen Terrorregimes pochten auf Gerechtigkeit, während man gleichzeitig kaum jemanden fand, die oder der sich als Täter/in betrachtete.

Wie Sara Paretsky im 16. Band ihrer Serie um die Privatdetektivin V. I. Warshawski deutlich macht, dachten jene, die zunächst durchaus sieben und strafen wollten, eher pragmatisch. Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ drohte schon der nächste Global-Gegner: Stalins Sowjetunion. Aus dem Verbündeten des Westens wurde ein erbitterter Feind, was ein Wettrüsten und einen „Kalten Krieg“ auslöste, der jederzeit atomheiß werden konnte.

Gute Zeiten für ehemalige Nazis mit Dreck am Stecken: Waren sie Spezialisten für Naturwissenschaften, die bei der Entwicklung und beim Bau wirkmächtiger Waffen helfen konnten, entkamen sie nicht nur dem Berufsverbot, sondern sogar dem Henker. Sie traten in den Dienst der Sieger, wo man sie mit zugehaltenen Nasen, aber offenen Armen aufnahm. Die USA umgarnten In Freiheit befindliche/abgetauchte Forscher im Rahmen der „Operation Overcast“. Für verurteilte und/oder bereits eingebuchtete Wunschkandidaten wurde „Operation Paperclip“ ins Leben gerufen: Mit sorgfältig frisierten Papieren ausgestattet, mutierten Kriminelle nach und nach zu Kollegen, Vorbildern und Helden, wobei ihre Biografien vor 1945 offiziell ausgespart blieben.

Weder die Zeit noch der Tod heilen alte Wunden

In „Kritische Masse“ greift Paretsky dieses heikle Thema nicht nur auf, sondern webt es in eine weitgespannte Geschichte um Schuld und Sühne ein. Daraus destilliert sie die Erkenntnis, dass ungesühntes Unrecht keineswegs von selbst erlischt, sondern schwärt, um nach langer Zeit plötzlich wieder aufzuflammen. Das ist nicht neu, wird aber selten so einleuchtend dargestellt wie hier.

Der Ablauf der Handlung wird mehrfach durch Rückblenden unterbrochen, die bis in die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgreifen. Die Autorin präsentiert scheinbar wahllose Ausschnitte aus Biografien, die sich erst im Verlauf der modernen Ereignisse allmählich einordnen lassen und ihren Sinn enthüllen. Dieser Kunstgriff bricht jene Mauer, hinter der uns Nachgeborenen die Erinnerungen alter Männer und Frauen, deren Groll und Angst fremd bleiben, weil wir die Auslöser nur vage aus Geschichtsbüchern und ‚Dokumentationen‘ einschlägiger TV-Sender kennen. Paretsky man deutlich, wieso erlittenes, aber auch begangenes Unrecht nicht vergessen werden kann.

Zwar konnten die Täter unter Mithilfe der US-Regierung Fuß fassen, doch im Laufe der folgenden Jahrzehnte geschah, womit weder sie noch ihre Helfershelfer gerechnet hatten: Die Schrecken des „Dritten Reiches“ gerieten nicht in Vergessenheit, sondern blieben präsent. Der organisierte Massenmord wurde nicht nur moralisch verdammt, sondern auch juristisch verfolgt, weshalb der Offenlegung einer braunen Spur in der Familien-Biografie zumindest ein Shitstorm folgen kann und wird, der nicht nur den eigentlichen Tätern, sondern auch deren Nachkommen und Erben trifft. Wo sich dies negativ auf florierende Geschäfte auswirkt, werden alte Verbrechen unter Einsatz moderner krimineller Methoden verwischt.

So sieht ein moderner Krimi aus

Die letzten direkten Zeitzeugen sind uralt oder bereits gestorben. Paretsky schildert eine Schar aus Tätern und Opfern, die dennoch zahlenstark bleibt: Auch Kinder und Enkel können von einem Krieg geprägt werden, den sie selbst nicht erlebt haben. V. I. Warshawski ist genau die Richtige, um in diesem trüben Tümpel nach der Wahrheit zu fischen. Sie gehört zu den Pionieren und letzten Überlebenden des modernen „Lady Thrillers“, als dieses Prädikat noch ein Qualitätssiegel darstellte: Frauen wurden aktive Figuren in Kriminalromanen, statt weiterhin auf die Rollen des Opfers oder der gefährlichen Verführerin beschränkt zu bleiben.

Später wurde das Konzept verwässert; der Mainstream übernahm es, und heute gehört die seitenstarke Suche nach Mr. Right wie selbstverständlich zur ‚Handlung‘ eines typischen „Lady Thrillers“. Paretsky bleibt standhaft: Warshawski ist nicht einfach „taff“, sondern geht entschlossen ihrem Job nach. Liebesgeplänkel bleiben zeilenkurze Einschübe, weshalb die vielen Seiten dieses Buches tatsächlich dem Fall gewidmet werden. Der ist komplex, weil sich vergangene und aktuelle Verbrechen, die manchmal nur bedingt miteinander zu tun haben, überschneiden und verändern. Paretsky nimmt sich genug Zeit, die vielen Fäden zu entwirren, aus denen der Plot gewoben ist. Es spricht für ihr Talent, dass es zwischen Auftakt und Finale keine Längen gibt.

Das Figurenpersonal ist glaubhaft bzw. bekannt - und sorgt hier für ein Problem: Sowohl Lotty Hershel als auch der unverwüstliche Mr. Contreras müssten eigentlich ihren 100. Geburtstag schon hinter sich haben. Paretsky muss die Chronologie ihrer Serie in biologischer Hinsicht ein wenig abschwächen, um diese Figuren weiterhin zu halten - ein Problem, dass freilich alltäglich in der Kriminalliteratur ist; hier wimmelt es von eigentlich längst vergreisten Helden. V. I. Warshawski gehört dagegen längst nicht zum alten Eisen. Dass Paretsky im Finale ein wenig zu enthusiastisch ist, was die Aufklärung und Bestrafung der diversen Untaten angeht, können wir als Wunschtraum (oder liberales Druckventil) deuten, nachdem es in Sachen Gerechtigkeit bisher allzu düster zuging. Gut, dass Sara Paretsky hierzulande nicht nur endlich einen neuen Verlag gefunden hat, sondern dort auch ausgezeichnet übersetzt wird.

Fazit:

Schon der 16. Band einer Serie, der zudem mehr als 500 Seiten zählt: Was eigentlich ideenarme Geschwätzigkeit befürchten lässt, wird hier zu einer dichten, nie lahmenden Geschichte, deren Autorin fern des heute seicht heruntergekommenen „Lady Thrillers“ im Auge behält, was einen weiblichen Krimi tatsächlich ausmacht.

Kritische Masse

Sara Paretsky, Argument

Kritische Masse

Deine Meinung zu »Kritische Masse«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

Krimi-Couch Redakteur Dr. Michael Drewniok öffnet sein privates Bücherarchiv, das mittlerweile 11.000 Bände umfasst. Kommen Sie mit auf eine spannende und amüsante kleine Zeitreise, die mit viel nostalgischem Charme, skurrilen und amüsanten Anekdoten aufwartet. Willkommen bei „Dr. Drewnioks mörderische Schattenseiten“.

mehr erfahren