Cracktown
- Maas
- Erschienen: Januar 1995
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- New York: Thunder´s Mouth Press, 1993, Titel: 'Life is hot in Cracktown', Seiten: 228, Originalsprache
- Berlin: Maas, 1995, Seiten: 192, Übersetzt: Dietmar Dath
- Berlin: Pulp Master, 2011
Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!
Die Originalausgabe stammt aus dem Jahr 1993, 1995 erfolgte bereits die deutsche Übersetzung, damals noch erschienen im Maas-Verlag, dem Pulp-Master-Vorgänger. Jetzt, Anfang 2012 die Wiederauflage, neu übersetzt von Angelika Müller.
Knapp zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung hat es der Erzählungsband immer noch in sich. Giovinazzos hammerharte Sprache hat nichts von ihrer unmittelbaren Wucht verloren, er geht immer dahin wo es wehtut, mal in Andeutungen, das endgültige Schicksal von Miss Lonely nach ihrem letzten Date bleibt eine Beobachtung am Rand, mal mitten in die Fresse, "Romeo: von Grund auf versaut" ist inhaltlich und stilistisch ein brutaler Par Force Ritt durch Cracktown, in dem Drogen und Gewalt regieren. Und sonst nichts. Fast nichts.
Mitleid, Liebe, die Sehnsucht nach einem besseren Leben scheitern an der Realität, egal ob Manny zwei Jobs hat, Geld spart, seine Frau liebt und versucht für die beiden Kinder zu sorgen; am Ende wird ihm eine herum liegende Waffe zum Verhängnis. Oder die transsexuelle Marybeth und ihr ungleicher Lover Benny, die versuchen ihr Leben trotz Drogenkonsums im Griff zu behalten. Doch je weniger Fläche sich Marybeth bietet einen Schuss zu setzen, umso mehr entgleitet ihnen ihre Existenz. Alltägliche Diskriminierung ist noch das geringste Problem. Heroin und "Raketen zünden" ist kostspielig, also geht Marybeth anschaffen und Benny auf krumme Touren. Risikoreich. Kugeln, die Cops oder Aids – die Chancen zu entkommen sind gering.
Cracktown ist mitten in New York, der Stadt in der es jeder schaffen kann. Genauso gut irgendwo anders, in einer dunklen Ecke, wo niemand so genau hinschaut, welches Versagen, welchen Abfall Medien und offizielle Funktionsträger so gerne unter den Teppich kehren. Ausnahme natürlich, es lässt sich mit der Betroffenheitsattitüde arbeiten. Kleine, unterernährte Kinder mit großen Augen, die in Favelas oder im Staub der Wüste hocken und verrecken, lenken davon ab, dass es im Inneren der westlichen Zivilisation nur unwesentlich anders aussieht. Gut, die Möglichkeiten Geld zu verdienen und sich das eigene Leben und das der anderen selbst zu versauen sind größer, aber die Hoffnungslosigkeit ist dieselbe. Man mag Giovinazzo vorhalten, dass er übertreibt; es reicht nicht, dass Manny zwei Jobs hat, in einer gefährlichen Gegend lebt und seine Familie kaum ernähren kann, nein, eines seiner Kinder ist zudem behindert, was den alltäglichen Stress noch einmal potenziert. Fast harmlos gegen das Schicksal Londas, mit den abgebrochenen Zähnen (Danke Daddy!), die misshandelt und missbraucht, mutterlos von ihrem Vater (vermutlich) geschwängert wird, was den nicht daran hindert, sie beim Drogenkonsum ertappt zu haben, mit Tritten und Schlägen zu bestrafen.
Buddy G. bündelt, fokussiert Schicksale in seinen Stories, er fasst auf einer halben bis vierzig Seiten zusammen, wofür andere Autoren komplette Romane brauchen. Cash ist ein groß(artig)er New-York-Roman, gegen das zerstörerische Monster en miniature "Romeo: Von Grund auf versaut" verblasst das voluminöse Werk. Ungerechter Vergleich, ich weiß, aber Giovinazzos Lyrik der alltäglichen Apokalypse, denn nichts anderes sind die kurzen Geschichten, provoziert solche Vergleiche geradezu. Verknappung, Übertreibung sind legitime Mittel für eine Literatur, die wehtun soll. Und es gelingt Giovinazzo auch noch 2012, Sprache in etwas zu verwandeln, das schmerzt.
Doch wer jetzt denkt, super, da ist der Abschaum unter sich: Lass sie sich gegenseitig umbringen, ob durch Waffen, Schläge oder Drogen - die Welle ist längst übergeschwappt. Nancy Normalo geht auf Einkaufstour und Richard der Manager lässt seinen Trieben freien Lauf. Mag Reue ständiger Begleiter sein, letztlich wird alles vernichtet, was man sich in der Vorstadt aufgebaut hat. Die Lügen ebenso wie die behagliche Vorstellung eines komfortablen Daseins.
Wem aber gehören die wenigen befriedigenden Augenblicke? Georgie, der über seinen Urinbeutel stolpert und glücklich ist, dass Sal, dem er Impotenz und Inkontinenz verdankt, von Kugeln durchsiebt wurde. Oder Chuckie, der die Liebe seines Lebens verloren hat, genauso wie seinen Job; und der es der Welt mit Freundlichkeit dankt. Weil es sonst nichts mehr gibt, was ihn am Leben halten würde. Außer die Bazooka abzufeuern… Mitfühlender Humor der ganz finsteren Sorte. Auch das hat Cracktown zu bieten. Wie "Ein ganz normaler Tag". Ein zweiseitiges Abschlachten. Aber im Auge des gewalttätigen Orkans das wahre Anliegen:
Um zwölf Uhr mittags hielt die ganze kranke Welt einen Wimpernschlag lang inne und fragte sich: Was zum Teufel geht hier ab und was soll der ganze Scheiß und was treibt die all diese Leute eigentlich in den Wahnsinn?
"Diese Leute" selbst. Mitglieder einer sogenannten Zivilisation am Rande des Zusammenbruchs. Ein Kreislauf aus Drogen und Gewalt und daraus resultierender gesellschaftlicher und genetischer Disposition. Verzweiflung. Nicht das Ende, sondern der Anfang.
Muss man nicht mögen, kann man eklig finden und in seiner Fixierung auf ausgelebte Gewalt, ohne sie soziologisch tiefer gehend zu begründen, als menschenverachtend ablehnen. Wäre aber bedauerlich. Denn dann entgeht einem ein radikales und wichtiges Werk der Gegenwartsliteratur.
PS.: Buddy Giovinazzo hat sein Buch verfilmt. Lief 2009 in wenigen amerikanischen Kinos, bevor es nahezu postwendend auf DVD erschien. Obwohl Giovinazzo seit Jahren für das deutsche Fernsehen arbeitet, Tatorte zwischen Berlin und Münster inszenierte und mit Wilsberg den schlechtest gelaunten und wenig sympathischen Detektiven der jüngeren deutschen Krimigeschichte ebendort in Szene setzte, hat sich bislang niemand erbarmen können "Life Is Hot In Cracktown" auch hierzulande herauszubringen. Wir reden nicht mal vom Kino…
Schlaf gut Deutschland. Cracktown ist ganz weit weg.
Buddy Giovinazzo, Maas
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