Chicago

  • HarperCollins
  • Erschienen: Oktober 2018
  • 3
  • Hamburg: HarperCollins, 2018, Seiten: 384, Übersetzt: Kerstin Fricke
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Jörg Kijanski
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2018

Ein literarischer Thriller

Chicago in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Der Chicago River trennt die North Side von der South Side oder anders formuliert, die Iren um Dion O’Banion von den Italienern um Al Capone. Für Juden, Chinesen sowie weiße und schwarze Amerikaner bleibt da nur wenig Platz. Entsprechend vorsichtig arbeitet die Presse, denn es gilt weder der Stadtverwaltung noch der Polizei und schon gar nicht den Mobstern auf die Füße zu treten.

»Jackie Weiss war an gebrochenem Herzen gestorben, schrieb Mike Hodge, gebrochen durch mehrere Kugeln einer 45er.«

Clement Parlow und Mike Hodge arbeiten für die Lokalredaktion der Chicago Tribune und fühlen sich der Wahrheit verpflichtet, sofern dies ihrer Gesundheit nicht abträglich ist. Hodge hat dabei eine neue Methode entdeckt, um an Informationen aus der Welt der Verbrecher zu kommen, die sich naturgemäß streng von der Öffentlichkeit abschottet.

Er besucht Beerdigungen »verstorbener« Gangster und wirft anschließend einen Blick auf den am Grab hinterlegten Blumenschmuck. Die Abschiedsgrüße geben ihm Einblicke über mögliche Beziehungen. Dabei nutzt er verstärkt das Blumengeschäft The Beautiful für Ermittlungen, da ihm dort die hübsche Verkäuferin Annie Walsh aufgefallen ist. Doch die Tochter des Inhabers ist eine katholische Irin, Hodge amerikanischer Protestant. Eine Beziehung kann folglich nur im Geheimen stattfinden.

»Es heißt doch >Wissen ist Macht<.«
»Macht ist Macht. Jeder, der etwas anderes behauptet, hat keine Ahnung von Macht. Oder Wissen. Wissen ist das, was einen ins Grab bringt.«

Als Jackie Weiss, jüdischer Besitzer eines Clubs, ermordet wird, ist die Neugier von Hodge geweckt, zumal sich Weiss bei seiner Hinrichtung nicht gewehrt hat. Wenig später wird sein Laufbursche Morris Teitelbaum ermordet, angeblich wurden Zahlungen an O’Banion nicht vollständig getätigt. Doch selbst wenn dies so wäre, warum sollte der irische Gangsterboss dann gleich zum finalen Szenario greifen?

Hodge ermittelt, aber plötzlich droht sein eigenes Leben zu kippen. Mitten in einem Stelldichein in seiner Wohnung wird Annie von einem Unbekannten erschossen. Wer steckt dahinter? Annies Familie? Doch zu einem Ehrenmord neigen eher die Italiener, während die Iren wohl den Mann erschießen würden. Hodge will den Mörder seiner Geliebten finden und recherchiert in den Bordellen und Spelunken der Stadt. Aber auch der Mafia muss er sich stellen …

Zahlreiche Dialoge, mehrere Morde und philosophische Gedankenspiele

David Mamet dürfte den Krimilesern eher unbekannt sein. Dennoch ist der Autor alles andere als ein Unbekannter, wurde schon zwei Mal für das beste adaptierte Drehbuch für den Oscar nominiert, einmal für die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes und erhielt für das bekannte Theaterstück »Glengarry Glen Ross« den Pulitzerpreis. Drehbücher und Theaterstücke sind sein Metier, umso spannender die Frage, wie er sich als Thrillerautor macht?

Hier muss vorweggenommen werden, dass sein Schreibstil sicher nicht wenigen Krimi- und Thrillerfans unangenehm aufstoßen wird. Denn wer hier geradlinige Action und Ermittlungsarbeit erwartet, greift mit »Chicago« daneben. Dabei wirken das Buchcover sowie die Inhaltsangabe zunächst verheißungsvoll. Allerdings sind die beiden Hauptfiguren Parlow und vor allem Hodge in erster Linie Journalisten.

Und was machen diese: Sie erzählen Geschichten. Gleiches gilt für die Kriminellen und Huren, deren Bekanntschaft Hodge auszunutzen versucht, um an Informationen zu kommen. Besonders die erste Hälfte des Romans ist sehr dialoglastig, wobei die Gespräche nicht immer einen Bezug zu der eigentlichen Geschichte, wie eingangs dargestellt, haben. Da wird gerne schon mal über Gott und die Welt philosophiert, weit abgeschwenkt, nicht immer finden die Gespräche ein nachvollziehbares Ende, sondern verbleiben im Ungefähren.

Das erschwert vor allem den Einstieg und wer diesen nach – sagen wir – 50 Seiten noch nicht geschafft hat, der sollte erwägen, das Buch zur Seite zu legen. Andererseits gibt es einige Erzählstränge, die wenig bis gar nichts mit dem eigentlichen Plot gemein zu haben scheinen und es ist faszinierend zu beobachten, wie der Autor zu einem späteren Zeitpunkt auf die (schon längst verdrängten) Einschübe zurückkommt.

»Warum hat er nicht geschossen?«
»Ja, fang mit dem an, was du weißt. Das ist Philosophie.«

Mamet schreibt literarisch anspruchsvoll, verwendet mitunter Wörter, die man in herkömmlichen Krimis und Thrillern nie finden würde und womöglich erst mal nachschlagen muss. Anleihen beispielsweise bei Kant und Shakespeare gibt es obendrein. Wer sich dennoch auf den ungewohnten Schreibstil einlässt, wird sich mit zunehmender Dauer an den teils skurrilen, teils lustigen Dialogen erfreuen.

Einblicke in das organisierte Verbrechen erhält man ebenfalls und so bietet auch das Ende eine (irische) Auflösung, die man nicht unbedingt erwarten konnte. Alles in allem ist »Chicago« ein Thriller, der in jeder Hinsicht aus der Masse herausragt.

Chicago

David Mamet, HarperCollins

Chicago

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