Eisrot
- Fischer
- Erschienen: Oktober 2018
- 5
- Kopenhagen: Politiken, 2017, Titel: 'Pigen uden hud', Seiten: 340, Originalsprache
- Frankfurt am Main: Fischer, 2018, Seiten: 416, Übersetzt: Marieke Heimburger & Kerstin Schöps
Rückkehr eines polaren Bauchaufschlitzers
Journalist Matthew Cave hat sich nach dem Unfalltod seiner Familie auf der Insel Grönland niedergelassen, wo er in der ‚Hauptstadt‘ (17000 Einwohner) Nuuk für die lokale Zeitung „Sermitsiaq“ arbeitet. Zwar hat er seine Trauer nicht überwunden, aber da auf der zwar erdgrößten, aber kaum besiedelten Insel selten Weltbewegendes geschieht, ist Cave psychisch inzwischen leidlich stabil.
Aktuell schickt ihn der Chefredakteur ins Inland, wo in einer Gletscherspalte die mumifizierte Leiche eines Mannes zum Vorschein kam, die dort womöglich seit einem halben Jahrtausend liegt: Dies könnte Grönlands Ötzi sein und war vielleicht zu Lebzeiten einer der aus Skandinavien eingewanderten Nordmänner, die im Mittelalter Grönland besiedelten!
Pflichtschuldig besichtigt Cave die Mumie, die mit wissenschaftlicher Sorgfalt geborgen werden soll, weshalb sie im - von einem Polizisten bewacht - erst einmal im Eis zurückbleibt. Zurück in Nuuk bereitet Cave seinen Artikel vor, doch in der Nacht gehen dem Fotografen, der den Journalisten begleitet hat, durch einen ‚Einbruch# sämtliche Bilder verloren. Deshalb kehrt Cave am nächsten Tag mit den Wissenschaftlern zum Gletscher zurück, doch die Mumie ist verschwunden. Zurück blieb nur der Polizist, der nicht nur ermordet, sondern buchstäblich ausgeweidet wurde.
Damit gewinnt das Rätsel um den Nordmann eine neue, düstere Dimension - dies auch deshalb, weil Nuuk Anfang der 1970er Jahre schon einmal Schauplatz mehrerer, in ihrer bizarrer Ausführung sehr ähnlicher Morde war, die niemals aufgeklärt werden konnten. Gibt es womöglich eine Verbindung zwischen den Bluttaten? Die Frage stellt sich zumindest Cave, der bald über eine ähnlich zugerichtete Leiche stolpert. Ganz offensichtlich will jemand die Ermittlungen manipulieren. Ein Aufklärungsversuch ist unerwünscht und lebensgefährlich, wie Matthew Cave bald erkennen muss …
Große Insel mit hässlichen Geheimnissen
Manchmal erlebt man als langjähriger = mit Autorentricks allzu vertrauter = meist enttäuschter Leser eine erfreuliche Überraschung. Wer hätte gedacht, dass sich hinter einem Null-Titel wie „Eisrot“ ein richtig spannender Krimi verbirgt, zumal die (deutsche) Werbung alles daran setzt, potenzielle Interessenten auf eine falsche Fährte zu locken, indem sie eine Reise in und durch die mythische Welt der Grönland-indigenen Inuit ankündigt. Dabei ist gerade die fast vollständige Abwesenheit solcher Mythentümelei eines der Pfunde, mit denen Mads Peder Nordbo wuchern kann.
Der Autor hat es nicht nötig, Esoterik-Schaum zu schlagen. „Eisrot“ spielt auf zwei Zeitebenen - 1973 und in der Gegenwart -, bleibt aber ausgesprochen nüchtern auf jeweils aktuelle, sehr reale Probleme konzentriert, die sich nicht lösen lassen, indem ein Inuit-Schamane kryptische Weisheiten ins Geschehen einfließen lässt. Das Fehlen daraus resultierender Peinlichkeiten trägt dazu bei, „Eisrot“ als Lektüre-Entdeckung zu markieren.
Grönland bietet zwar eine faszinierende Bühne, ist aber - Nordbo sei Dank für deutliche Worte - trotzdem ein Teil der realen Welt und kein nordpolares Wunderland. Die oft hässliche Wirklichkeit bleibt jederzeit gewahrt, wenn der Verfasser eine ebenso bizarre wie interessante Mordgeschichte erzählt, die in einer Vergangenheit wurzelt, die das offizielle Grönland gern unter den Tisch fallen lässt: Die riesige Insel ist zwar weiterhin schwach besiedelt, liegt aber höchstens noch geografisch am Rand der Welt. Längst ist Grönland ein touristisches Ziel, dessen Attraktivität nicht durch üble Wahrheiten getrübt werden soll.
Wie üblich: Sünden der Vergangenheit leben ewig
Dass ausgerechnet jene Inuit, die einerseits als Repräsentanten einer ökologisch ‚korrekten‘ und ‚besseren‘ Lebensart und andererseits als Opfer der repressiven Kolonialmacht Dänemark betrachtet werden, überdurchschnittlich oft ihre Töchter, Nichten oder Schwestern missbrauchen, ist eine Tatsache, auf die jene Grönländer, die den Blick in eine verheißungsvolle, globale Zukunft richten, keinen Verbreitungswert legen. Doch Naturvölker, die scheinbar direkt am Busen von Mutter Gäa existieren, sind keineswegs unschuldige Gutmenschen. Auch ohne Ausbeuter, Eroberer oder Missionare sorgen indigene Strukturen für indigenes Unrecht.
Nordbo thematisiert das und öffnet eine weitere Ebene grönlandhistorischen Unrechts, indem er an die 1950er und 60er Jahre erinnert, als die damals noch uneingeschränkt herrschende dänische Mutterland die Inuit sesshaft machen wollte - um jeden Preis, was bedeutete, dass man sie in hastig aus dem Boden gestampfte Wohnsilos zwang, ohne sie an die drastisch veränderte Lebenssituation zu gewöhnen oder sie zu betreuen. Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung: Unter den Folgen leiden jene Inuit, die sich locken ließen, noch heute.
Auch in dieser Vorgeschichte findet Nordbo den Humus, in den er seine Geschichte pflanzt. Was als primär spektakuläre Metzel-Mär beginnt, weitet sich zu einem zwar erfundenen, vor dem geschilderten Hintergrund jedoch allzu möglichen Horror-Krimi aus, der das Übernatürliche nicht benötigt, weil wie so oft der Mensch selbst für den ultimativen Schrecken sorgt.
Ein Lob dem soliden Handwerk
„Eisrot“ ist kein innovativer Thriller. Geboten wird eine stringente, spannende Handlung vor ungewöhnlicher Kulisse. Grönland ist kein ‚normaler‘ Lebensraum. Die klimatischen Extreme bestimmen nach wie vor das Alltagsleben. Nordbo, der selbst auf Grönland lebt, weiß die Konsequenzen weniger zu schildern als in die Handlung einfließen zu lassen. Dies gleicht manche eher aufregende als logische Plot-Wendung aus und versöhnt mit den bestenfalls bewährten Figurenzeichnungen.
Matthew Cave ist der typische Anti-Held, den eine persönliche Tragödie aus dem Lot gebracht hat. Dass ihn dies ausgerechnet nach Grönland führt, weiß Nordbo mit einer mysteriösen Familiengeschichte zu begründen, die in „Eisrot“ angedeutet, aber nicht aufgeklärt wird. Damit ist der Boden für eine Krimi-Serie bereitet. In der Tat ist Cave schon zurück; ein zweiter Band steht vor der deutschen Veröffentlichung.
An Caves Seite steht die Inuit-Frau Tupaarnaq, die allzu unschwer als Lisbeth Salander 2.0 zu identifizieren ist: leicht erregbar, kampfstark, durch tragische Erlebnisse gezeichnet. Wieso ausgerechnet Matt Cave ihren Schutzpanzer durchdringen kann, ist dem Willen des Verfassers geschuldet. Als Figur ist Tupaarnaq recht generisch, zumal sich - wer hätte es nicht gedacht? - trotz aller Widerstände eine Beziehung zwischen ihr und Cave entspinnt; auch dies ist eine Investition in die Serien-Zukunft, der man als Leser trotzdem freudig entgegenfiebert.
Fazit:
Obwohl der Plot vor allem spektakulär und die Figurenzeichnung konservativ ist, weiß Autor Nordbo Grönland nicht nur als exotische Kulisse, sondern als Schauplatz zu nutzen. Ohne Ethno-Schwurbel, sondern faktengestützt, erinnert der Autor an das komplizierte soziale Gefüge der insularen Gesellschaft, das hier als Katalysator für das beschriebene Verbrechen dient.
Mads Peder Nordbo, Fischer
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