Heiliger Bimbam
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1982
- 3
- London: Victor Gollancz, 1945, Titel: 'Holy Disorders', Seiten: 175, Originalsprache
- München: Goldmann, 1982, Titel: 'Seht das Motiv und nicht die Tat', Seiten: 293, Übersetzt: Tony Westermayr
- Köln: DuMont, 2001, Seiten: 293, Übersetzt: Ulrike Wasel & Klaus Timmermann
Ein Hauch von Spuk liegt in der Luft
Geoffrey Vintner, Komponist und Musiker, wird von Gervase Fen, einem alten Bekannten, ins kleine Städtchen Tolnbridge in der Grafschaft Devon unweit des Ärmelkanals gerufen. Dort verbringt der Englischprofessor und Amateur-Detektiv seine Ferien und sieht sich in einen undurchsichtigen Kriminalfall verwickelt. Der Organist Brooks wurde Opfer eines Giftanschlages, als er an der berühmten Orgel der Kathedrale von Tolnbridge seinem Tagwerk nachging. Seither liegt er im Delirium und faselt von "hängenden Männern" und "sich bewegenden Grabplatten".
Vintner soll ihn vertreten, und dies schreckt die unbekannten Attentäter auf, denn sie schicken dem schockierten, ohnehin etwas weltfremden Komponisten einen Drohbrief, in dem sie vor der Reise nach Tolnbridge warnen, und lassen, als dieser nicht spuren mag, sogleich Taten folgen. Einem ersten Anschlag mitten in London kann Vintner mit der Unterstützung eines unverhofften Bundesgenossen noch entgehen. Henry Fielding, ein waschechter Earl und höchst unkonventioneller Geist, begleitet seinen neuen Schützling kurz entschlossen nach Tolnbridge, wo die beiden nach neuen Attacken leidlich ungeschoren eintreffen.
Im Schatten der Kathedrale hat auch in den dunklen Jahren des II. Weltkriegs (unsere Geschichte spielt nicht lange nach dem britischen Rückzug aus Dünkirchen) das Domkapitel das Sagen. Kantor Dr. Butler, ein strenger Mann, hat Professor Fen gebeten, den Fall Brooks zu lösen, und Inspektor Garrett von der örtlichen Polizei ist durchaus damit einverstanden. Fen schließt aus den wenigen Fakten, dass Brooks in der Kathedrale zufällig Zeuge kriminellen Tuns wurde und daher ausgeschaltet wurde. Die anonymen Briefe an Vintage legen nahe, dass die Übeltaten fortgesetzt werden und nun auch der neue Organist bedroht ist. Immerhin kann der bisher überzeugte Junggeselle das Herz der schönen Frances, Butlers ältester Tochter, gewinnen.
Dennoch steigert sich Vintages Unbehagen erheblich, als Brooks durch eine neuerliche Giftdosis endgültig zum Schweigen gebracht wird. Ins Jenseits folgt ihm bald Dr. Butler, der ebenfalls in der Kathedrale von der riesigen, durch Meuchlerhand aus der Verankerung gelösten Frontplatte des Grabes von St. Ephraim, dem etwas suspekten Ortsheiligen, erschlagen wird. Nun lässt sich Scotland Yard zu Fens Missfallen nicht mehr aus dem Fall heraushalten, zumal der englische Geheimdienst CID nächtliche Funksignale aus der Kirche geortet hat: Offenbar treiben Spione in deutschen Diensten ihr Unwesen in Tolnbridge!
Zu ihnen gesellen sich bald noch Teufelsanbeter und Hexen, denen einst der böse Bischof Thurston übel mitgespielt hat. Rächen sich die Nachfahren der Betrogenen und auf dem Scheiterhaufen Verbrannten nun, indem sie über seinen Gebeinen finstere Riten zelebrieren - und haben Brooks und Butler sie dabei überrascht? Josephine, die jüngere Tochter des Kantors, entpuppt sich als aktive Hexe, die ihren Meister nicht preisgeben mag, der sich ihrer Treue vorsichtshalber durch viel Rauschgift versichert. Dennoch geht die eigentliche Gefahr kurioserweise von Gervase Fen aus, den die Furcht, das kriminalistische Rennen gegen Scotland Yard zu verlieren, zu lange schweigen lässt, als er schon längst die Täter kennt. Das lässt diesen Zeit genug, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die den Krieg nun auch an die Heimatfront bringen ...
Edmond Crispin (1921-1978), der eigentlich Robert Bruce Montgomery hieß, gehört trotz seines schmalen Werkes zu den ganz großen Autoren des klassischen angelsächsischen Kriminalromans. Eigentlich war er Musiker - zunächst Organist und Chorleiter am St. Johns College in Oxford, wo er auch moderne Sprachen studiert hatte, später Komponist, der neben Oratorien, Orchesterstücken und einer Kinderoper 38 Filmmusiken schuf. Crispins und Montgomerys Karrieren fließen in "Heiliger Bimbam" in die Figuren Geoffrey Vintner bzw. Gervase Fen ein.
Von den zwischen 1944 und 1951 in rascher Folge verfassten acht Romanen um den detektivisch begabten Professor Gervase Fen ist "Heiliger Bimbam" der zweite. Im Vergleich zum noch etwas bemühten Vorgänger "The Case of the Gilded Fly (1944; dt. "Mord vor der Premiere", DuMont KB 1080) ist Crispin deutlich souveräner geworden. Ihn kümmert es nicht, dass seine Geschichte tief in zu diesem Zeitpunkt untergegangenen "Goldenen Zeitalter" des englischen Kriminalromans (das mit dem II. Weltkrieg auszuklingen begann) wurzeln. Daher sind die Charaktere völlig überzeichnet und skurril, und sie bewegen sich in einer angemessen jenseits von Zeit und Raum stehenden Kulisse. Zwar wird hier und da über den Kriegsalltag gestöhnt, und der Plot dreht sich um finstere Nazi-Spione, aber beides spielt eine deutlich untergeordnete Rolle und wird erst wichtig im großen Finale, das für einen Genre-Krimi im Allgemeinen und für Edmund Crispin im Besonderen erstaunlich Action-lastig ausfällt; diese letzten Seiten wollen sich daher zum bisherigen Geschehen nicht recht fügen.
Denn ansonsten geht es recht gemächlich und in jeder Beziehung altmodisch zu in diesem Krimi; dem verschlafenen Schauplatz Tolnbridge angemessen, möchte man meinen. Sogar ein Hauch von Spuk liegt in der Luft. Volker Neuhaus weist in seinem wie üblich fachkundigen Nachwort auf die deutlichen Anleihen bei einem anderen Großmeister des klassischen Krimis hin. John Dickson Carr (1906-1971) hat stets mit Begeisterung böse Taten an unheimlicher Stätte begehen lassen. Die Hexenverfolgungen von Tolnbridge haben mit der eigentlichen "Bimbam"-Geschichte nichts zu tun. Trotzdem widmet ihr Crispin breiten Raum und zitiert sogar ausführlich aus den (fiktiven) Aufzeichnungen des abscheulichen Bischofs Thurston vom Anfang des 18. Jahrhunderts; Crispin erweist damit gleichzeitig dem König der englischen Gespenstergeschichte, Montague Rhodes James (1862-1936) - wie Fen, Crispin & Montgomery ein Oxford-Gelehrter -, seine Referenz. (Letzteres ist Ihres Rezensenten Meinung.)
Crispins eingangs erwähnter Spieltrieb lässt ihn immer wieder unbekümmert mit seinem Stoff umgehen. Da sind nicht nur die vielen geistreichen Aperçus ("Mein lieber Freund, die Kirche versteht es meisterhaft, ein Auge zuzudrücken. Bei den Jesuiten nennt man das Kasuistik." - S. 111), die erfreulicherweise die auch sonst ausgezeichnete Übersetzung überlebt haben, sondern auch witzige Anspielungen auf Kollegen und Freunde - der von Fen auf S. 89 mit Missfallen angekündigte "Appleby von Scotland Yard" ist die Hauptfigur einer grandiosen, äusserst langlebigen Krimiserie von Michael Innes (1906-1994, natürlich ebenfalls ein Oxford-Don) - und direkte Attacken auf die Fiktion: Fen und seine Gefährten wissen ganz genau, dass sie nur Figuren in einer Geschichte sind: "´Aha', sagte der Inspektor misstrauisch, ´und was soll das für ein Knoten sein, wenn ich fragen darf?' ´Er heisst »Köderhakenknoten«'. ´Warum heisst der so?' ´Weil', sagte Fen seelenruhig, ´der Leser ihn schlucken soll.'" (S. 98; dazu folgt gleich eine empörte Fußnote des Verfassers, für die Fen sich auf S. 282 revanchiert, indem er Crispin als seinen Biografen à la Dr. Watson bezeichnet.) Nicht gerade dem Realismus verpflichtet ist auch Fens Einfall, einen Angreifen auszuschalten, indem er einen Schwarm Wespen auf ihm hetzt, den er ausgerechnet in seinem Kleiderschrank beherbergt.
Edmund Crispin, Goldmann
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