Mord vor der Premiere
- Heyne
- Erschienen: Januar 1976
- 6
- London: Victor Gollancz, 1944, Titel: 'The Case of the Gilded Fly', Seiten: 158, Originalsprache
- München: Heyne, 1976, Seiten: 277, Übersetzt: Leni Sobez
- Köln: DuMont, 1999, Seiten: 277, Übersetzt: Barbara Sibold
Ein Thriller, der neugierig macht auf mehr
Elf Personen reisen in der Woche zwischen dem 4. und dem 11. Oktober 1940 mit dem Zug von London nach Oxford. Zwischen einem Professor für Englische Sprache und Literatur, einer sozialistisch angehauchten Theaterregisseurin, einem Dramatiker, drei Schauspielerinnen, von denen zwei auch Schwestern sind, dem Chief Constable von Oxford, einem Kirchenmusiker, einem verkrachten Studenten, einer mausgrauen Studentin und einem bekannten Journalisten scheint es nur marginale Gemeinsamkeiten zu geben. Doch binnen einer weiteren Woche kommen drei dieser elf Männer und Frauen auf gewaltsame Weise ums Leben, und die übrigen acht werden einander besser kennenlernen, als ihnen lieb ist.
Ausgerechnet eingangs erwähnter Professor ist es, der die Zusammenhänge zwischen den Morden und die darin verwickelten Reisenden herstellt. Der Name Gervase Fen hat nicht nur in der Wissenschaft einen guten Klang. Auch als Amateur-Detektiv konnte der etwas zerstreute Sprachforscher schon mehrfach auf sich aufmerksam machen. Zwar hält sich die Begeisterung der Polizei in Grenzen, doch Fen erhält Rückendeckung von einem alten Freund, Sir Richard Freeman, besagtem Polizeichef von Oxford.
Robert Warner, der Dramatiker, sieht in Oxford der Aufführung seines neuen Stückes entgegen. In der letzten Zeit hat er ein wenig Pech gehabt, so dass er nun in der Theaterprovinz sein Heil suchen muss. Viel hängt für ihn ab vom Erfolg, so dass er recht nervös ist.
Auch unter den Schauspielern gärt es. Besonders die wenig begabte, aber sehr von sich eingenommene und allgemein verhasste Yseut Haskell sorgt für Aufregung. Angesichts ihrer ständigen Intrigen und notorischen Unzuverlässigkeit ist es vielleicht kein Wunder, dass sie einem wahrlich theatralischen Mordanschlag zum Opfer fällt. Die Schar der Verdächtigen ist überschaubar, aber groß, und wie das so üblich ist bei einem Verbrechen unter lockeren Künstlern, ist es mit ihren Alibis nicht weit her.
Nur Gervase Fen ist sich sicher, den Mörder bereits zu kennen. Nur an Beweisen fehlt es noch. Während der Professor und die Polizei eifrig ermitteln, ist der Mörder ebenso fieberhaft damit beschäftigt, seine Spuren zu verwischen. Dennoch kommt der zweite Mord für alle Beteiligten völlig überraschend ...
Edmund Crispin (1921-1978), der eigentlich Robert Bruce Montgomery hieß, gehört trotz seines leider recht schmalen Werkes zu den wichtigsten Autoren des "klassischen" Kriminalromans. Als Schriftsteller verdiente sich Crispin nur wenige Jahre seinen Lebensunterhalt, denn eigentlich war er Musiker - zunächst Organist und Chorleiter am St. Johns College in Oxford (aha!), wo er auch moderne Sprachen studiert hatte (nochmals aha!), später Komponist, der sich weigerte, zwischen "guter" E- und "minderwertiger" U-Musik zu trennen und neben Oratorien, Orchesterstücken und einer Kinderoper 38 Filmmusiken schuf!
Zwischen 1944 und 1951 verfasste Crispin in rascher Folge acht Romane um den detektivisch begabten Professor Gervase Fen, in dessen Wesen man zumindest in den frühen Bänden viel von seinem geistigen Vater wiederfindet. Nach einer mehr als 25- jährigen Pause ließ Crispin zur großen Überraschung von Kritikern und Leserschaft nur ein Jahr vor seinem frühen Tod einen neunten Fen-Roman folgen, der reizvoll das Bemühen erkennen lässt, das zu diesem Zeitpunkt mausetote "Goldene Zeitalter" des klassischen englischen Kriminalromans (das mit dem II. Weltkrieg auszuklingen begann) nicht nur nostalgisch aufzugreifen, sondern weiterzuentwickeln; über den Erfolg kann man geteilter Meinung sein.
"Mord vor der Premiere" ist indes Crispins Debut, erschienen noch während des Krieges. Der Kriegsalltag der Zivilbevölkerung fließt immer wieder und quasi nebenbei in die Handlung ein, die sich dadurch vom typischen britischen "Landhaus-Krimi", der jeglicher Realität in der Regel enthoben ist, abhebt. Sogar ein Sexleben wird den Protagonisten behutsam zugebilligt - Agatha Christie hätte sich wahrscheinlich eher die Schreibhand abgehackt!
Natürlich wirkt "Mord vor der Premiere" sechs Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung trotzdem steif und altmodisch. Das war schon 1944 nicht anders. Man bedenke: Zu diesem Zeitpunkt hatten Raymond Chandler und Dashiell Hammett ihre wichtigsten, ungleich moderneren Werke bereits veröffentlicht! Für ein Debut liefert Crispin dennoch nicht nur eine achtbare, sondern eine vorzügliche Story, die ihn sogleich in die Reihen der britischen Thrillerelite katapultierte. Aber er geht auf Nummer Sicher - die Handlung ist merklich als Kriminalrätsel konzipiert, die den Leser unterhalten und ihm nach und nach dieselben Wege zu seiner Lösung aufzeigen soll, die auch Gervase Fen und seine Mitstreiter entdecken. Die Figurenzeichnung passt sich dagegen dem Plot an und muss schon damals in vielen Punkten arg reißbrettartig gewirkt haben.
Selbstverständlich sind die Charaktere leicht überzeichnet und angemessen skurril, wie wir es aus unzähligen "britischen" Komödien (von denen die besonders typischen aus Hollywood stammen ...) kennen. Nicht überraschend dürfte es sein, dass genau diese Künstlichkeit sie für den heutigen Leser so nostalgisch-lebendig wirken lässt.
Ansonsten geht es recht gemächlich zu in diesem Krimi; dem ehrwürdigen Schauplatz Oxford angemessen, möchte man meinen. Die Welt des Theaters, die auf mehr auf Schein als auf Sein, über Falltüren und unter künstlichen Himmeln aufgebaut ist, war schon immer sehr beliebt als Schauplatz literarischer Verbrechen. Die Kulissen sind übersichtlich, das Ensemble ist es auch, und so kann der Schriftsteller-Novize leichter die Übersicht behalten. Des Rätsels Lösung ist angemessen vertrackt, sie wird standesgemäß vom Amateur-Detektiv im Beisein aller Verdächtigen präsentiert, während sich die Polizei bescheiden im Hintergrund hält, und endet in einer großen Verfolgungsjagd, die den Täter mit der Unterstützung eines auf dramatische Wirkung bedachten Schicksals der schnöden irdischen Gerechtigkeit enthebt - ein Thriller, der neugierig macht auf mehr, was vom Herausgeber der DuMont-Kriminalbibliothek Volker Neuhaus im gewohnt informativen Nachwort glücklicherweise in Aussicht gestellt wird.
Edmund Crispin, Heyne
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