Geheimnis in Rot

  • Klett-Cotta
  • Erschienen: Januar 2017
  • 1
  • London: Skeffington & Son, 1936, Titel: 'The Santa Klaus Murder', Seiten: 288, Originalsprache
  • Stuttgart: Klett-Cotta, 2017, Seiten: 297, Übersetzt: Barbara Heller
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Michael Drewniok
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2018

Santa legt die Rute ab und greift zur Pistole

Zum Weihnachtsfest des Jahres 1935 wird zumindest für die Familie Melbury das Landgut Flaxmere zum Zentrum der Welt: So will es Sir Osmond Melbury, aktuelles Oberhaupt einer Sippe, die sich in den Folgegenerationen nicht so vorbildlich entwickelt hat, wie es der strenge, überaus konservative Adelsmann sich vorstellte.

Für die meisten Familienmitglieder ist das fatal, da sie auf Sir Osmonds finanzielles Wohlwollen angewiesen sind. Sohn George, der Flaxmere und den Titel erben wird, besitzt nicht annähernd das Format oder das ökonomische Geschick des Vaters. Die Töchter Edith und Eleanore sind zwar standesgemäß verheiratet, aber unglücklich, was Sir Osmond freilich nicht interessiert. Tochter Hilda hat ihm einst getrotzt und einen Mann geheiratet, den sie liebte. Der durch den Tod des Gatten früh geendeten Ehe verdankt sie Tochter Carol sowie ein Leben in Armut, da der Vater keineswegs gedachte, sie finanziell zu unterstützen.

Aktuell richtet sich Sir Osmonds Interesse auf Jennifer, seine Jüngste, die ebenfalls auf die Ehe mit einem Luftikus besteht; jedenfalls hält ihr Vater Philip Cheriton für einen solchen. Er hätte lieber Oliver Witcombe als Schwiegersohn, weshalb er ihn ebenfalls zum Weihnachtstreffen eingeladen hat. Außerdem anwesend ist Mildred, Osmonds Schwester, die ihren Bruder für geizig hält, sich aber trotzdem gern auf Flaxmere einfindet, um dort schlechte Stimmung zu verbreiten.

Der Abend der Bescherung endet spektakulär: Noch während die Geschenke verteilt werden, trifft Sir Osmond in seinem Arbeitszimmer eine Kugel in den Kopf. Der Fall geht an Detective Inspector Rourdon, doch Chief Constable Colonel Halstock, ein alter Freund der Familie, mischt sich ein, um einen drohenden Gesellschaftsskandal zu vermeiden ...

Polizeiarbeit mit bekannten oder beliebten Hindernissen

Klassischer geht Krimi eigentlich nicht. Die Geschichte spielt nicht nur im England der 1930er Jahre, sondern wurde auch in dieser Zeit geschrieben. Was heute als Klischee entweder geschätzt oder verspottet wird, war damals aktuell. Gemordet wird deshalb in (scheinbar) erlauchten Kreisen, und Ort der bösen Tat ist ein Landsitz, der stadtfern und vornehm, aber gleichzeitig isoliert in einer Landschaft liegt, die man nur schwer unbemerkt betreten oder verlassen kann. Folgerichtig muss die Täterin/der Täter Teil der Hausgemeinschaft sein, die uns Autorin Mavis Doriel Hay ausführlich vorstellt.

Wie es sich gehört, ist der Mord eigentlich unmöglich: Das Opfer sitzt in einem verschlossenen Raum. Niemand hat darauf geachtet, wer sich vor oder kurz nach der Entdeckung der Bluttat im Haus aufhielt. Dass (mindestens) eine/r der Anwesenden lügt, liegt auf der Hand, doch das herauszufinden ist eine Herausforderung, denn selbstverständlich gedenkt sich der (weibliche oder männliche) Strolch nicht fangen zu lassen. Da die Polizei rasch erscheint und niemand abreisen darf, läuft es auf das genretypische Duell zwischen Ermittler und Täter hinaus: Wird dieser die spärlichen, womöglich gefälschten Indizien und Aussagen korrekt sortieren und aus ihnen die Wahrheit destillieren, und wird jener die Nerven behalten, während sich die Schlinge dank langsamer, von Irrtümern beeinträchtigter aber hartnäckiger Fahndungsarbeit zuzieht?

Dass unser Ermittler-Duo Colonel Halstock und Inspector Rourdon die Verdächtigen mit Samthandschuhen anfassen muss, erschwert dies beträchtlich. Doch vor dem Zweiten Weltkrieg konnte der englische Adel noch auf seine Privilegien pochen. Es ist schon ein Zugeständnis, dass Halstock - ein alter Freund der Familie - und Rourdon Flaxmere durch den Vordereingang betreten können. Auf keinen Fall dürfen sie jedoch jene formalisierte Höflichkeit vergessen, die im Umgang mit der Oberschicht quasi vorgeschrieben ist. Zudem übernehmen die Polizisten eine große Verantwortung: Selbst wenn kein Melbury schuldig ist, darf das Verbrechen keineswegs offiziell werden = in den Medien auftauchen. Dies wäre identisch mit einem Skandal, der den Ruf der Melburys zerstören würde - und Schande ist schlimmer als der Tod!

Familienleben als Tod auf Raten

Der Ruf einer Familie der "besseren Gesellschaft" hat makellos zu sein. Was hinter einem Schleier aus Diskretion und Vertuschung tatsächlich vorgeht, ist solange Nebensache, wie es dort bleibt. Dies zu gewährleisten, ist im Fall der Melburys eine echte Herausforderung.

Hay schildert die Sippe unmissverständlich als disharmonische, eher durch Geld und Bitterkeit als durch Liebe und Achtung verbundene Gruppe. Sir Osmond ist weniger Oberhaupt als Marionettenspieler, der die Familienmitglieder an seinen Fäden tanzen lässt. In diesem Mikrokosmos hält er alle Trümpfe: Er hat nicht nur den Adelstitel und den Adelssitz, sondern auch das Geld, denn dank Sir Osmond - und nur dank seiner! - sind die Melburys überaus reich.

Weder seine Geschäftstüchtigkeit noch den souveräne Oberklasse-Auftritt haben seine zahlreichen Nachkommen geerbt - und das lässt sie Sir Osmond büßen! Auch untereinander sind sich sowohl die echten als auch die angeheirateten Familienmitglieder alles andere als grün. Seit Jahren und Jahrzehnten schwelen nie gelöste Konflikte; sie können jederzeit wieder ausbrechen. Womöglich ist genau dies geschehen, doch leider kommt jede Frau und jeder Mann als Mörder in Frage.

Gesucht - gefunden; dazwischen die Mitte

Die Ermittlungen stellt Autorin Hay mit einer gewissen Unerbittlichkeit dar. Sie hält sich konsequent an jene "10 Gebote für einen 'fairen' Detektivroman", die Krimi-Kollege Roland Knox 1929 festlegte. Demnach durften - und mussten - falsche Spuren gelegt werden, die jedoch final zu erklären waren. Zufälle und Übernatürliches waren ebenso verpönt wie Lügen, die nur dazu dienten, das Publikum in die Irre zu führen. Stattdessen sollten die Leser in der Lage sein, quasi eigene Ermittlungen anzustellen. Lagen sie richtig, kamen sie womöglich vor dem Detektiv auf die korrekte Lösung. Gelang dies nicht, hing das Lektürevergnügen von einer plausiblen, Punkt für Punkt nachvollziehbaren Schilderung des Tathergangs ab.

Hay wirft in einem ausführlichen Mittelteil Licht auf alle möglichen und unmöglichen Spuren und Aussagen. Die in Flaxmore Anwesenden werden wieder und wieder befragt, bis es im Leserhirn zu summen beginnt, weil die Verfasserin auf Details herumreitet, die einen in ihrer Flut zu ertränken drohen. Immer wieder fassen Halstock und Rourdon den Stand der Ermittlungen analytisch zusammen, bevor sie fortfahren: Hay will offenkundig nicht riskieren, dass jemand den Anschluss verliert.

In dieser Phase hilft die Lebendigkeit, mit der Hay die Familienhölle von Flaxmere in Szene setzt. Wesentlich drastischer als beispielsweise Zeitgenossin Agatha Christie arbeitet sie heraus, was faul ist an diesem edlen Stammbaum. Deren Mitglieder beharken sich vornehm zurückhaltend, ohne dadurch an Gift und Zorn zu verlieren. Dass diese Konfrontation (plus Mord) zu Weihnachten, dem "Fest der Liebe" stattfindet, verleiht dem Ganzen zusätzlich ironische Würze. Hinzu kommt das wohltuende Fehlen von Sentimentalitäten, die sparsam, aber wirksam durch trockenen Humor aufgewogen werden. Unterm Strich ergibt sich kein Meisterwerk der Kriminalliteratur, sondern etwas ebenso Wertvolles: ein Rätselkrimi, der in seinen Routinen so unterhaltsam ist, dass wir über sein deutsches Ersterscheinen froh sind.

Geheimnis in Rot

Mavis Doriel Hay, Klett-Cotta

Geheimnis in Rot

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