Der Hunger der Lebenden
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2019
- 11
- Berlin: Ullstein, 2019, Seiten: 385, Originalsprache
Leben und sterben in der Nachkriegszeit
Juni/Juli 1947. In Köln setzt eine Hitzewelle der hungernden Bevölkerung zu. Als im Bergischen Land die Hofbesitzerin Ilse Röder durch vier Schüsse ins Gesicht zu Tode kommt, scheint die Sache klar. Der Knecht des Hofes, Gottfried Büchler, überrascht die junge Franziska Wagner am Tatort. Nicht nur, dass sie die Mordwaffe in der Hand hält, sie schießt auch auf Büchler, der sie anschließend überwältigen kann.
Für Hauptkommissar Heimerzheim ist der Fall gelöst, dennoch soll Friederike Matthée von der Weiblichen Polizei aus Köln herangezogen werden, um eine Aussage von Wagner zu erhalten. Wagner, die bereits mehrfach mit der Polizei Ärger hatte, schweigt beharrlich. Erst als Matthée in einer Ruine, wo die Frau lebte, auf die elfjährige Elli trifft, ergeben sich Hinweise für Wagners abweisendes und aggressives Verhalten.
Sie wurde in einem polizeilichen Jugendschutzlager in der Uckermark untergebracht, wo menschenunwürdige Zustände und brutale Misshandlungen an den inhaftierten jungen Frauen deren Alltag bestimmten. Röder, die früher bei der Polizei arbeitete, war für die Einweisung Wagners in die Anstalt verantwortlich.
Währenddessen wird Lieutenant Richard Davies von der Royal Military Police in England gebeten, trotz seiner bereits eingereichten Kündigung, noch einmal für Ermittlungen ins Rheinland zu fahren, da er die dortige Gegend kennt. Ein britisches Militärflugzeug kehrte nach einem Bombenangriff im Krieg nicht zurück, nun wurden überraschend die Leichen der dreiköpfigen Besatzung gefunden. Die englischen Soldaten wurden damals ermordet und verscharrt.
Der zweite Fall führt Friederike Matthée und Richard Davies erneut zusammen
Spielte der erste Roman „Echo der Toten“ noch in der kalten Winterzeit zu Beginn des Jahres 1947, so setzt der zweite Band, im heißen Juni desselben Jahres spielend, die Reihe (so denn noch weitere Fälle folgen) kongenial fort. Zunächst steht die junge und noch immer manchmal etwas unschlüssige Matthée im Vordergrund, die den Mord an der ehemaligen Polizistin beziehungsweise Hofherrin „untersucht“. Angesichts des Leids, das der verdächtigen Franziska Wagner wiederfahren ist, will Matthée der jungen Frau gerne helfen und glaubt, dass die Tat womöglich auch eine andere Person begangen haben könnte. Denn die „ehrenwerte“ Röder war attraktiv, begehrt und brachte erst kürzlich einen Jungen zur Welt; obwohl sie verheiratet war und ihr Mann womöglich noch lebt. Seine Spur verlor sich 1943 in Russland.
Der aktuelle Kriminalfall bestimmt zunächst die Handlung, Davies kommt erst spät ins Spiel. Gleichwohl sind die Gedanken der beiden Protagonisten nicht selten beim jeweils anderen, kam man sich doch bei der ersten Zusammenarbeit ein wenig näher. Für einen zaghaften Kuss reichte es immerhin.
Wer nun eine schwülstige Liebegeschichte vor ernsthaftem Hintergrund befürchtet, der (oder die) kann beruhigt werden. Zwar spielt die Beziehung zwischen den Beiden weiterhin eine tragende Rolle, drängt sich aber nicht übermäßig in den Vordergrund. Im Gegenteil, es bestimmen eher die Zweifel auf beiden Seiten das Verhalten der Figuren, zumal Davies noch immer einen tiefen Hass gegen alle Deutschen verspürt. Schließlich ist er Jude, seine Eltern starben in einem Konzentrationslager.
Die Folgen des Krieges werden detailliert beschrieben
Im Vergleich zu „Echo der Toten“ werden in dem nun vorliegenden Roman „Der Hunger der Lebenden“ die Auswirkungen des Krieges noch eindringlicher aufgezeigt. Die Zerstörung der Stadt Köln, die Notlage der hungernden Menschen, aber auch die Kriegsgräuel deutscher Soldaten sowie die unerträglichen Zustände in dem so genannten Jugendschutzlager, welches in Wirklichkeit ein Konzentrationslager für Mädchen war, werden genauer beschrieben. Es ist harter Stoff, der im deutlichen Gegensatz zum mitunter unschlüssig-naiven Verhalten der Protagonistin steht, und dadurch noch klarer auf den Leser einwirkt.
Fazit:
Wer neben einem durchaus spannenden „Doppelfall“ (Ermordung einer ehemaligen Polizeibeamtin in der Gegenwart, Ermordung britischer Soldaten in der Vergangenheit) eine kleine Geschichtsstunde erleben möchte, der kann hier gerne zugreifen. Beate Sauer beschönigt weder die Verbrechen und Massaker der deutschen Soldaten noch die Zustände in dem Mädchen-KZ in der Uckermark. Auch die Frage nach Schuld, Vergebung und vor allem Verdrängung werden beleuchtet. Somit erhält das Buch eine über den Krimiplot hinausgehende, beklemmende Nachwirkung. Zum Ausgleich stellt sich bis zum Schluss die Frage, ob denn die beiden Hauptfiguren wenigstens ein bisschen privates Glück finden.
Beate Sauer, Ullstein
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