Alter schützt vor Scharfsinn nicht

  • Scherz
  • Erschienen: Januar 1978
  • 16
  • New York: Dodd, Mead, 1973, Seiten: 310, Originalsprache
  • Bern; München; Wien: Scherz, 1978, Seiten: 267, Übersetzt: Edda Janus
  • Bern; München; Wien: Scherz, 1981, Seiten: 205, Übersetzt: Edda Janus
  • Bindlach: Loewe, 1992, Seiten: 219, Übersetzt: Edda Janus
  • Bern; München; Wien: Scherz, 2003, Seiten: 234, Übersetzt: Edda Janus
  • Frankfurt am Main: Fischer, 2005, Seiten: 234, Übersetzt: Edda Janus
  • München: Der Hörverlag, 2007, Seiten: 3, Übersetzt: Peter Kaempfe, Bemerkung: gekürzte Fassung von Michael Bartlett; aus dem Engl. von Axel Henrici
Wertung wird geladen
Michael Drewniok
35°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2003

Gute alte wird zur mörderisch modernen Zeit

Nach vielen Jahren im Dienst des britischen Secret Service haben sich Tommy und Prudence "Tuppence" Beresford ein Häuschen in Hollowquay, einer Kleinstadt an der Südküste Englands, gekauft. Hier richten sie ihren Altersruhesitz ein und freunden sich mit den Dorfbewohnern an.

Zumindest das umfangreiche Buchinventar der früheren Eigentümer haben die leselustigen Beresfords übernommen. Als Tuppence den Bestand sichtet, fallen ihr in einem Roman merkwürdige Markierungen auf. Die unterstrichenen Buchstaben fügen sich zu folgenden Sätzen: "Mary Jordan ist keines natürlichen Todes gestorben. Es war einer von uns."

Diesem Geheimnis können die Beresfords auch im Ruhestand nicht widerstehen. Das alte Buch trägt den Namen seines Besitzers. Tommy findet sein Grab auf dem Friedhof von Hollowquay: Alexander Parkinson starb unter merkwürdigen Umständen im Alter von nur 14 Jahren. Dies geschah kurz vor Ausbruch des I. Weltkriegs.

Auch eine Mary Jordan hat es gegeben. Geboren in Straßburg, galt sie als deutsche Spionin und war in den Cardington-Skandal verwickelt. Er entstand um das Verschwinden wichtiger Geheimpapiere, die offenbar den Deutschen verkauft wurden. Mary Jordan starb wenig später bei einem tragischen Unfall – so jedenfalls lautet die Überlieferung.

Damals wurde viel vertuscht, und sechzig Jahre nach besagtem Skandal gibt es immer noch Gruppen, die auf keinen Fall die offizielle Deutung der Ereignisse in Frage gestellt sehen wollen. Als Tommy und Tuppence nicht lockerlassen, konfrontiert man auch sie mit der bewährten Methode, unliebsame Zeugen durch Mord zum Schweigen zu bringen …

Der Kreis schließt sich

1922 veröffentlichte Agatha Christie ihren zweiten Kriminalroman The Secret Adversary (dt. Ein gefährlicher Gegner) spielte kurz nach dem I. Weltkrieg und schilderte die Abenteuer junger Leute, die auf die Spur einer verschwundenen Agentin und dabei in gefährliche Abenteuer geraten. Thomas Beresford und Prudence Cowley – die einander "Tommy" und "Tuppence" nennen – werden ein Ehepaar, arbeiten für den Geheimdienst Ihrer jeweiligen Majestät und gründen eine Detektei. Im II. Weltkrieg entlarven sie nazideutschhörige Verräter, bleiben bis in die 1960er Jahre aktiv und altern dabei chronologisch korrekt zu Großeltern und Pensionären.

1973 erschien Postern of Fate (dt. Alter schützt vor Scharfsinn nicht), der vierte und letzte Roman mit Tommy & Tuppence – hinzu kommt eine Sammlung mit Kurzgeschichten – und zugleich das letzte Buch, das Agatha Christie geschrieben hat. (Curtain, dt. Vorhang, und Sleeping Murder, dt. Ruhe unsanft, erschienen erst 1975 bzw. 1976, waren aber schon mehr als drei Jahrzehnte früher entstanden.) In einem halben Jahrhundert war sie zur "Queen of Crime" und zur lebenden Legende dieses Genres geworden – ein Ruf, den sie sich hart erarbeitet hatte.

Doch auch Legenden rosten. Über 80 Jahre alt und nicht mehr auf der Höhe ihrer körperlichen wie geistigen Kraft war Christie, als sie ihr letztes Werk schrieb, wofür. Alter schützt vor Scharfsinn nicht zum unfreiwilligen Zeugnis wurde.

Die Melancholie des Alters

Am absehbaren Ende eines langen Lebens ließ die Autorin ihre Gedanken in ihre Jugendzeit zurückschweifen. Alter schützt vor Scharfsinn nicht ist deshalb vor allem Bestandsaufnahme und ein Werk der Erinnerung geworden. Tommie und Tuppence sind in ihrem letzten Fall etwa so alt wie ihre geistige Mutter. Sie nehmen auch räumlich Abschied von ihrem gewohnten Leben. Hinzu kommt, was sie zwar voreinander nur selten und dann umschreibend erwähnen, ihnen aber durchaus bewusst ist. Der Alltag ist langsam und beschwerlich geworden, die Kräfte lassen nach: Zwar ist der Geist noch willig, das Fleisch aber wird schwach.

Umzug und Umstellung bedeuten Unruhe. Christie beschreibt ausführlich, wie Tommy und Tuppence sich in ihrer neuen Umgebung einzuleben versuchen. Dahinter wird mehr als ein Hauch von Melancholie deutlich. Offensichtlich beschäftigte sich Christie sehr mit den Themen Alter und Tod, als sie dieses Buch schrieb. Tommy und Tuppence geben ihren Gedanken und Erinnerungen Stimmen.

Darüber hinaus müssen sie einen Kriminalfall lösen. Christie ging damit einen Kompromiss ein: Die typischen Christie-Leser interessieren sich nicht für die etwas sprunghaften Gedankengänge einer alten Frau. Sie wollen einen Christie-Krimi. Also versuchte die routinierte Autorin ihnen zu geben, was gefordert wurde, stellte aber das Krimi-Element in den Dienst ihres eigentlichen Anliegens.

Gestern und heute im Übergang

Zu klären ist ein Verbrechen, das sich vor über einem halben Jahrhundert ereignet hat. Tommy und Tuppence nahmen damals bereits am "Großen Spiel" der europäischen Spionage teil. Die Geschichte der Mary Jordan bietet die ideale Gelegenheit zum Rückblick. Für die Beresfords beginnen Vergangenheit und Gegenwart ohnehin zu verschwimmen bzw. ineinander überzugehen. Dies bestätigen die Treffen mit alten Freunden und Bekannten, die nicht nur bei den aktuellen Ermittlungen helfen, sondern auch und vor allem gemeinsame Erlebnisse Revue passieren lassen, die Christie in den Tommy-&-Tuppence-Romanen und -Kurzgeschichten beschrieben hat.

Leider hat Christie die Fähigkeit eingebüßt, zwischen Krimi und Reflexion die rechte Balance zu finden. Sie verliert sich in Anekdoten und Episoden. Ein lieber aber dummer Hund treibt ausführlich geschilderte Possen. Ähnlich verhalten sich die offenbar in toto mindesten leicht senilen Bewohner von Hollowquay, die sich nicht einmal über Kekse oder Blumenzwiebeln unterhalten können, ohne nach kurzer Zeit den Gesprächsfaden zu verlieren. Mit entsprechenden Schnurren verplappert Christie ziellos viele Seiten – ein Fehler, der ihr früher nicht unterlaufen wäre.

Wir sind nicht mehr, wer wir waren

Schlimmer ist jedoch die Erkenntnis, dass dieser Kriminalfall im Nichts verebbt. Zwar wird zwischendurch jemand ermordet, und auf Tuppence werden zwei Mordanschläge verübt. Diese Zwischenfälle werden jedoch weder vorbereitet noch mit der vor sich hin plätschernden Handlung verknüpft. Der dramatische Höhepunkt fällt aus. Damit der Täter gefasst werden kann, muss tatsächlich der erwähnte dumme Hund eingreifen.

Den Offenbarungseid leistet Christie, wenn ihr beim besten Willen nicht gelingt, das Rätsel um Mary Jordan überzeugend aufzulösen. Als der Mörder längst gefasst ist, folgen viele Seiten, in denen ein alter Secret-Service-Mann die Beresfords besucht, um ihnen die Hintergründe des Mysteriums zu erläutern. Vorgeblich aus Gründen der Geheimhaltung drückt er sich damit so schwammig aus, dass dem Leser der ohnehin über Gebühr strapazierte Geduldsfaden im und als Finale reißt.

Versuch einer Deutung

Was Christie vorgeschwebt haben mag, könnte der Originaltitel andeuten. Er ist ein Zitat aus James Elroy Fleckers (1884-1915) Gedicht "Gates of Damascus":

 

Vier große Tore hat die Stadt Damaskus:
[…]
Die Hintertür des Schicksals (postern of fate)
Das Tor zur Wüste (desert gate)
Die Höhle des Unglücks (disaster’s cavern)
Die Festung der Angst (fort of fear).
[…]
Zieh´ nicht durch sie hinaus, o Karawane,
aber solltest du es dennoch tun, so singe keine Lieder."

 

Christie geht von der Prämisse aus, dass Ideen, Ideale oder Ideologien ihre Zeit überdauern, in eine Art Winterschlaf fallen, in einer späteren Generation eine erneut darauf eingestimmte Gefolgschaft finden und zu neuem Leben erwachen können. Hollowquay ist Heimat einer sich immer wieder verjüngenden Gruppe, die ihre eigenen Vorstellungen von einer besseren Welt in die Tat umzusetzen versuchen. Mary Jordan und Alexander Parkinson ist ihr zum Opfer gefallen, im II. Weltkrieg gab es Kontakte zum "Dritten Reich" und später zu diversen terroristischen Gruppen.

Mary, Alexander und nun die Beresfords haben nicht geschwiegen, als sie auf der Suche nach der Wahrheit durch die "Hintertür des Schicksals" zogen, es so herausforderten bzw. ihre Gegner auf sich aufmerksam machten. Geheime und gefährliche Umtriebe sah Agatha Christie, die den Untergang des alten Empires und die Herausbildung neuer Großmächte miterlebt hatte, offensichtlich auf der ganzen Welt. Diese Annahme ist legitim, selbst wenn sie unrealistisch ist. Auf jeden Fall hätte Christie sie schärfer fassen müssen. Stattdessen schwafelt sie und vollendet einen (Kriminal-) Roman, der ihr nicht zur Ehre gereichen kann.

 

Alter schützt vor Scharfsinn nicht

Agatha Christie, Scherz

Alter schützt vor Scharfsinn nicht

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Alter schützt vor Scharfsinn nicht«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

Krimi-Couch Redakteur Dr. Michael Drewniok öffnet sein privates Bücherarchiv, das mittlerweile 11.000 Bände umfasst. Kommen Sie mit auf eine spannende und amüsante kleine Zeitreise, die mit viel nostalgischem Charme, skurrilen und amüsanten Anekdoten aufwartet. Willkommen bei „Dr. Drewnioks mörderische Schattenseiten“.

mehr erfahren