Ruhe unsanft

  • Atlantik
  • Erschienen: September 2015
  • 33
  • London: Collins, 1976, Titel: 'Sleeping Murder. Miss Marples Last Case', Seiten: 224, Originalsprache
  • Bern; München; Wien: Scherz, 1977, Seiten: 273, Übersetzt: Eva Schönfeld
  • Bern; München; Wien: Scherz, 1980, Seiten: 206, Übersetzt: Eva Schönfeld
  • Bern; M+nchen; Wien: Scherz, 1986, Seiten: 206, Übersetzt: Eva Schönfeld
  • Bern; München; Wien: Scherz, 1990, Seiten: 194, Übersetzt: Eva Schönfeld
  • Klagenfurt: Kaiser, 1993, Seiten: 316, Übersetzt: Eva Schönfeld
  • Bern; München; Wien: Scherz, 1999, Seiten: 193, Übersetzt: Eva Schönfeld
  • Frankfurt am Main: Fischer, 2007, Seiten: 222, Übersetzt: Eva Schönfeld
  • Marburg: Verl. und Studio für Hörbuchproduktionen, 2004, Seiten: 5, Übersetzt: Gabriele Blum, Bemerkung: ungekürzt
Ruhe unsanft
Ruhe unsanft
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2023

Miss Marple löst ihren letzten Fall

Gwenda Reed, zwar in England geboren, aber seit ihrer Kindheit in Neuseeland ansässig, kehrt 1944 kurz nach ihrer Heirat in die alte Heimat zurück, wo das Ehepaar sich niederlassen möchte. Da Gatte Giles noch in Neuseeland aufgehalten wird, reist Gwen allein voraus, um sich nach einem Haus umzuschauen. In der Nähe der Südküste verliebt sie sich in dem kleinen Ort Dillmouth auf Anhieb in das Anwesen „Hillside“. Zu ihrer Verwunderung scheint sie in Haus und Garten jeden Winkel zu kennen. Dann bekommt Gwenda den Schrecken ihres Lebens: Vor ihrem geistigen Auge erscheint die Gestalt einer Frau, die erdrosselt im Hausflur liegt.

Voller Angst flüchtet Gwenda nach London zu Verwandten. Im Haus des Schriftstellers Raymond West ist aktuell auch dessen Tante zu Gast. Miss Jane Marple, eine scharfe Beobachterin, die schon manchen Kriminalfall lösten konnte, wenn die Polizei überfordert war, hört sich Gwendas Geschichte aufmerksam an - und hält sie für wahr: Offenbar hat Gwenda schon einmal als Kind in „Hillside“ gelebt, dies aber vergessen.

Miss Marple warnt davor, eine alte Tragödie wieder aufzurühren, doch Gwenda und der inzwischen eingetroffene Giles schlagen dies in den Wind. Daraufhin beschließt Miss Marple zu helfen und unternimmt eine ‚Erholungsreise‘ nach Dillmouth, wo sie auf ihre bewährte, trügerisch harmlose Weise die Einheimischen befragt.

Gemeinsam kommt man einem sorgfältig vertuschten Kriminalfall auf die Spur. Die möglicherweise darin verwickelten Personen leben weiterhin in Dillmouth. Zumindest eine/r erfährt von der privaten, aber hartnäckigen Ermittlung und gerät allmählich in Panik, was gefährliche Folgen nach sich ziehen könnte …

„Schreibe in der Zeit, dann hast du in der Not“

In den 1940er Jahren war Agatha Christie auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Sie verfasste Romane und Theaterstücke - und sie arbeitete schnell! Diese Energie nutzte Christie, als sie einkalkulierte, dass sie im nazideutschen „Blitzkrieg“ umkommen könnte. Deshalb schrieb sie zwei Kriminalromane für ihre Erben - einen mit Hercule Poirot für Tochter Rosalind, den anderen mit Miss Marple für Ehemann Max. Doch Christie überlebte den Krieg und hatte nun zwei Asse im Ärmel, die sie ausspielte, als klar war, dass sie 1973 ihren letzten (und nicht guten) Roman verfasst hatte. „Poirot’s Last Case“/„Vorhang“ wurde 1975 das letzte zu Christies Lebzeiten veröffentlichte Buch. 1976 folgte ein halbes Jahr nach ihrem Tod „Sleeping Murder“/„Ruhe unsanft“.

Geschrieben hatte Christie ihn 1940, was entscheidend dazu beiträgt, dass dieser Krimi nicht nur überaus klassisch wirkt, sondern es ist. Obwohl die Geschichte aus der Zeit gefallen wirkt, ist sie lesbar das Produkt der erwähnten, überaus fruchtbaren Christie-Periode. Hier werden sämtliche Register gezogen, die den britischen „Whodunit“ unsterblich machten.

Die Autorin startet mit einem Rätsel, das zunächst das Wirken übernatürlicher Mächte vermuten lässt. Mit einem faulen Trick würde Christie jedoch nie arbeiten. Das Mysterium lässt sich rational aufklären. Christie überträgt Miss Marple die Aufgabe und führt diese denkbar geschickt in die Handlung ein. Die reizende alte Lady ist wie üblich die einzige, die sich nicht aufs Glatteis führen lässt. Ungerührt verwirft sie Spuk und Geisteskrankheit als Ursache der genannten Vision und stellt stattdessen - Christie kannte offensichtliche das Werk ihres Zeitgenossen Sigmund Freud - die kindliche Verdrängung einer unheimlichen, aber realen Erfahrung fest.

Was findet sich am anderen Ende der Zündschnur?

„Ruhe unsanft“ beginnt mit dem Sturz eines Dominosteins, der eine Kette nur scheinbar isoliert stehender Steine zu Fall bringt. Miss Marple warnt weise davor, die Geister einer Vergangenheit zu wecken, die ganz sicher nicht furchteinflößende, aber harmlose Schatten bleiben werden. Selbstverständlich siegt die menschliche Neugier. Gwenda will wissen, was (ihr) vor Jahren geschehen ist, zumal womöglich ihr Vater eine düstere Rolle dabei gespielt hat.

Christie hat oft die Angst lange unbehelligt gebliebener Verbrecher thematisiert, die sich plötzlich mit einem Wiederaufleben eigentlich ad acta gelegter Ermittlungen konfrontiert sehen. Stets ist dies Auslöser einer allmählich aufflackernden Panik, die in der direkten Konfrontation des oder der Täters bzw. Täterin mit einer allzu neugierigen Hauptfigur gipfelt, die nicht immer gerettet werden kann. Dann obliegt es Miss Marple (oder Hercule Poirot), dem Recht zumindest nachträglich Genüge zu tun.

Es gehört zum Ablaufschema, dass sich Täter/in und Opfer möglichst früh über den Weg laufen, ohne einander zu erkennen. Um dies zu gewährleisten sowie gleichzeitig das Figurenpersonal übersichtlich zu halten, läuft das Geschehen an übersichtlichen Schauplätzen ab. Hier ist es ein kleiner Ort in Küstennähe, dessen Bewohner einander seit jeher kennen - scheinbar, denn ein vertuschter Skandal, an den man sich nur ungern erinnern will, entpuppt sich als kollektive Fehlinterpretation.

Das Schicksal wird ausmanövriert

Christie setzt die nach und nach in Erfahrung gebrachten Fakten zu einem völlig neuen Bild zusammen. Miss Marple ist in ihrem zwölften und letzten Auftritt deutlich agiler und wohl auch jünger ist als in ihren späteren Fällen; auch dies kann man als Hinweis auf die Entstehungszeit des Romans werten. Jedenfalls hat Miss Marple kein Problem damit, ihr vertrautes Heim zu verlassen, um vor Ort in Dillmouth zu ermitteln. Dort ist sie eifrig auf den Beinen, besucht alte und neue Bekannte, streift durch die lokalen Läden und ist auch sonst sehr präsent, während sie sich vordergründig Klatschgeschichten anhört, aber tatsächlich auf sehr subtile Weise ihre Gesprächspartner ausfragt.

Zum guten Ton eines Kriminalromans gehört der Augenblick der Erkenntnis. Er fällt mit der direkten Konfrontation von Täter/in und Opfer zusammen, was die Final-Spannung zusätzlich steigert. Auch hier ist Miss Marple unmittelbar beteiligt und fällt dem Mörder sogar in den Arm (wobei sie deutlich einfallsreicher vorgeht als hier angedeutet). Bis es soweit ist, gilt es als Leser aufmerksam zu sein. Christie rollt einen überaus komplexen Fall auf, der durch verwickelte Familienverhältnisse verwirren kann. Im zeitgenössischen Milieu entwarf die Autorin eine nicht nur strafrechtlich relevante Situation, sondern rührte auch an starren sozialen Regeln. Im gewählten Umfeld war Mord durchaus ein Mittel, sich vor einem Skandal zu schützen, den man noch mehr fürchtete als den Henker.

Mit „Ruhe unsanft“ gelang Agatha Christie ein würdiger Abschied. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte sie Kriminalromane und -storys geschrieben, mit denen sie das Genre entscheidend geprägt hatte und in sämtlichen möglichen Medien erfolgreich präsent war. So urteilte auch die Kritik, obwohl schon 1976 bekannt war, dass dieser Roman lange auf Eis gelegen hatte.

„Ruhe unsanft“ im Fernsehen

Selbstverständlich wurde „Sleepless Murder“ in der BBC-Serie „Miss Marple“ verfilmt. Joan Hickson (1906-1998) spielte die Titelrolle. Im Januar 1987 wurde diese Folge in zwei Teilen (13 und 14) ausgestrahlt. Zwischen 2004 und 2013 griff der Sender ITV die Serie erneut auf. In der fünften Episode verkörperte Geraldine McEwan (1932-2015) „Agatha Christie’s Marple“.

Fazit

Der letzte von Agatha Christie veröffentlichte Roman ist eine Zeitkapsel - ein bereits Jahrzehnte alter, aber dank seiner klassischen Qualitäten zeitloser Krimi, deren Autorin zeigt, wie man ein ganzes Bündel roter Fäden fest in der Hand hält, um sie zu einer finalen Überraschung zu schürzen.

Ruhe unsanft

Agatha Christie, Atlantik

Ruhe unsanft

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