Die Schattenhand
- Scherz
- Erschienen: Januar 1944
- 33
- New York: Dodd, Mead & Company, 1942, Titel: 'The moving finger', Seiten: 229, Originalsprache
- Bern: Scherz, 1944, Seiten: 235, Übersetzt: Anna Katherina Rehmann
- Bern: Scherz, 1948, Seiten: 223, Übersetzt: Anna Katherina Rehmann
- München: Goldmann, 1959, Übersetzt: Anna Katherina Rehmann
- Berlin: Das Neue Berlin, 1964, Seiten: 190, Übersetzt: Anna Katherina Rehmann
- München: Goldmann, 1971, Seiten: 183, Übersetzt: Anna Katherina Rehmann
- Bern; München; Wien: Scherz, 1979, Seiten: 188
- Bern; München; Wien: Scherz, 1985, Seiten: 214
- Bern; München; Wien: Scherz, 1999, Seiten: 222, Übersetzt: Sabine Roth
- Frankfurt am Main: Fischer, 2004, Seiten: 222, Übersetzt: Sabine Roth
- Marburg: Verl. und Studio für Hörbuchproduktionen, 2005, Seiten: 5, Übersetzt: Ursula Illert, Bemerkung: ungekürzt
- Frankfurt am Main: Fischer, 2009, Seiten: 324, Übersetzt: Sabine Roth
- München: Der Hörverlag, 2010, Seiten: 3, Übersetzt: Edmund Telgenkämper, Bemerkung: gekürzte Fassung von Ursula Honisch; aus dem Englischen von Sabine Roth
Briefe schreibende Schlange im Dorf-Paradies
Pilot Jerry Burton wird bei einem Absturz schwer verletzt. Seine Genesung wird Monate in Anspruch nehmen und erfordert viel Ruhe. Deshalb bezieht Jerry mit seiner jüngeren Schwester Joanna, die eine unglückliche Liebesaffäre überwinden will, ein kleines Haus unweit der Kleinstadt Lymstock. Die Aufnahme ist freundlich, doch das Dorfleben ist für die aus London stammenden Geschwister schwer durchschaubar. Erst allmählich erkennen sie, dass sich unter einer glänzenden Oberfläche auch Hässliches abspielt.
Für besondere Aufregung sorgen derzeit anonyme Briefe, die scheinbar wahllos ihre schockierten Empfänger finden. Sie werden in Lymstock aufgegeben, der Sudelbock (oder die Sudelgeiß) muss also aus dem Ort stammen! Auch die Geschwister Burton finden bald anonyme Post in ihrem Briefkasten. Die Anschuldigungen sind bösartig aber wenig präzise, doch nicht nur Dorfarzt Griffith fürchtet, das irgendwann einer der Giftpfeile zufällig ins Schwarze treffen wird.
Als es tatsächlich soweit ist, wird die Gattin des Anwalts Symmington das Opfer. Sie nimmt sich das Leben, was die „Schattenhand" - wie der oder die anonyme Briefeschreiber/in inzwischen genannt wird - noch anzustacheln scheint. Oberinspektor Nash und Inspektor Graves werden nach Lymstock entsandt, um dem bösen Spuk ein Ende zu bereiten. Doch die Runde der Verdächtigen ist kopfstark. Viele Dorfbewohner sind mit ihrem Leben unzufrieden oder haben alte Rechnungen zu begleichen. Nun beginnt man einander zusätzlich zu verdächtigen und zu beobachten.
Nach einem zweiten Mord ruft die resolute Pfarrersfrau eine alte Freundin zur Hilfe: Jane Marple hat schon mehrfach dort Kriminalfälle gelöst, wo die Polizei ratlos blieb. Ein scharfer Verstand mischt sich mit großer Lebenserfahrung, weshalb es Miss Marple gelingt, die vielen Informationsfragmente in eine Reihenfolge zu bringen, die zum Täter führt ...
Unter der Kruste
Das typische Dorf gleicht nach Ansicht prominenter Krimi-Autoren einem Kessel, der ständig unter Dampf steht. Die heimliche aber lückenlose Sicht über den Gartenzaun hinüber zum Nachbarn sorgt für den nötigen Druck, der durch Klatsch und Nachrede problemlos erhöht werden kann. Als Ventil funktioniert der Streit, bei dem endlich offengelegt wird, was bisher im eigenen Saft schmorte. Bestenfalls wird daraus eine Aussprache, nach der zumindest dieser Konflikt beigelegt ist.
Eine rigorose sowie weniger öffentliche Methode besteht darin, den störenden Zeitgenossen aus dem Weg zu räumen. Wo der dazu erforderliche Mut fehlt, kann kriminelle Energie sich eine Alternative bahnen: Aus der Sicherheit des eigenen Heims heraus setzt er oder sie Gerüchte in die kleine Dorfwelt - absenderlos natürlich, denn ärgern und in Verruf geraten sollen sich nur die Angeschwärzten. Der anonyme Brief empfiehlt sich deshalb als simple aber effiziente Methode, eigenen Hass auf Mitmenschen zu projizieren. Wenn diese sich winden, kann sich der Denunziant am verursachten Unglück weiden und endlich einmal mächtig fühlen.
Dieses Ergebnis ist quasi vorprogrammiert, denn nichts verunsichert den Menschen stärker als ein Angriff aus dem Hinterhalt. Gegenwehr ist unmöglich. Stattdessen wird das Opfer zusätzlich in die Defensive gezwungen: „Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein". Nicht grundlos zitiert auch Agatha Christie dieses alte Sprichwort immer wieder. Der rührige Finger des Originaltitels - eine Anspielung auf jene warnenden Worte, die Gott durch einen Geisterfinger an die Wand des frevelnden Königs Balsazar schreiben ließ (Buch Daniel, Kap. 5, Vers 1-25) - spießt quasi wehrlose Mitbürger auf; darüber hinaus werden die anonymen Briefe mit einem einzigen Finger getippt.
Verdacht als Flächenbrand
1942 war Agatha Christie als Autorin auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Sie beherrschte das Krimi-Handwerk, war aber noch flexibel genug, Neues aufzugreifen und einfließen zu lassen. In „Die Schattenhand" machen sich viele Protagonisten Gedanken über das Motiv des anonymen Briefeschreibers. Zwar muss sich Christie vorsichtig ausdrücken, aber sie lässt keinen Zweifel daran, dass sexuelle Frustration in den Motivkanon aufgenommen werden muss. Das bezieht den außergewöhnlich „weiblich" wirkenden Mr. Pye ein, der zwischen den Zeilen problemlos als homosexuell zu erkennen ist.
In Lymstock gibt es viele frustrierte Menschen. Dass auch oder sogar besonders Frauen zu ihnen zählen, möchte Christie unmissverständlich machen. Dabei geht es nicht um Ehebruch, der im klassischen Krimi sexuelle Verfehlungen symbolisiert: Wer dieses Wort las, wusste um die breite Palette der Möglichkeiten, ohne dass der Autor präziser werden musste. Doch die Zeiten änderten sich. Der Zweite Weltkrieg sorgte dafür, dass die Frauen zunehmend aus dem Schatten der lange abwesenden Männer traten. (Der Krieg wird zwar von Christie mit keinem Wort erwähnt, doch Jerry Burton wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit als Kampfpilot abgeschossen.)
Diese erstaunlich moderne Sicht bettet Christie trügerisch in eine Dorfidylle ein, die sie ungemein kunstvoll konstruiert, um sie anschließend Stück für Stück so zu demontieren, wie man einer Fliege die Flügel ausreißt. Lymstocks Bewohner sind nur vorgeblich liebenswert altmodisch, umständlich oder exzentrisch. Dahinter kommen echte Menschen mit Schattenseiten zum Vorschein. Bewundernswert dosiert Christie diese dunklen Züge so sorgfältig, dass sie als alltägliche, üblicherweise versteckte Bosheit, aber auch als Indiz für die Aktivität als Schattenhand gewertet werden können. Auf diese Weise bezieht Christie ihre Leser in den Kreis der Hauptfiguren ein, die zunehmend hektischer wieder und wieder die Schar der Verdächtigen durchgehen und doch zu keiner Entscheidung kommen. Die Unsicherheit grassiert in Lymstock!
Die Sicht von außen
Die Miss-Marple-Fans werden verwundert oder enttäuscht sein, denn die berühmte Detektivin glänzt bis ins letzte Romanviertel durch Abwesenheit. Nachträglich erweist sich das als kluge Entscheidung. Tatsächlich ist das Rätsel um die „Schattenhand" so simpel gestrickt, dass Miss Marple es binnen kurzer Zeit gelöst hat. Wäre sie früher als „dea ex machina" auf der Bildfläche erschienen, hätte es keinen Doppelmord und damit diese Kriminalgeschichte nicht gegeben.
Gleichzeitig setzt Christie das späte Erscheinen geschickt zur Vorbereitung einer Auflösung ein, die ansonsten deutlich weniger Aufsehen erregt hätte. Wie üblich kann die Bosheit der Schattenhand der Realität nicht standhalten. Dahinter kommt ein überaus profanes Verbrechen zum Vorschein. Miss Marple lässt sich nicht be- oder durch das Lymstocker Durcheinander verwirren.
Damit nutzt sie ihren Außenseiterstatus wesentlich klüger als Jerry Burton, der sich in den Strudel des Dorflebens ziehen lässt und darin untergeht. Ihm geht die als Detektiv erforderliche Objektivität schnell verloren. Er schließt Freundschaften und verliebt sich sogar in eine junge Dorffrau. Ohne es zu merken, ist Burton selbst Teil der Gemeinschaft geworden.
Dabei kennt er des Rätsels Lösung viel früher als die Polizei und selbst Miss Marple. Doch Burton begreift nicht, was er gesehen hat und wie es zu bewerten ist. Als Detektiv ist er unfähig; er taugt nur als Beobachter, der uns beschreibt, was sich in Lymstock ereignet, bevor Miss Marple auftaucht. Über Burton werden auch uns, den Lesern, die Hinweise präsentiert, die der „Schattenhand" schließlich zum Verhängnis werden. Da Christie eine ungemein routinierte Krimi-Autorin ist, dürften diejenigen, die in diesem Punkt ins Schwarze treffen, in der Minderheit sein. Die Autorin äußerte sich noch viele Jahre später zufrieden über Die Schattenhand. Wir stimmen ihr ebenso zufrieden zu.
Die Schattenhand im Fernsehen
Dass Die Schattenhand nicht zu den "großen" Christie-Romanen zählt, lässt sich auch daran erkennen, dass er bisher nur zweimal verfilmt wurde. Zwischen 1984 und 1992 verkörperte Joan Hickson (1906-1998), die (anders als die beim Publikum wesentlich beliebtere Margaret Rutherford) Agatha Christie selbst in dieser Rolle sehen wollte, Miss Marple in zwölf sehr erfolgreichen TV-Filmen. 2004 nahm Geraldine McEwan die Rolle in der ebenfalls beliebten Serie „Agatha Christie's Marple" auf. Hickson trat 1985 in Die Schattenhand auf, McEwan folgte 2006. (Den weltfremd vergeistigten Reverend Caleb Dane Calthrop spielte hier Ken Russell, sonst ein Regisseur, der für seine skandalträchtigen Filme bekannt und berüchtigt war - ein hübscher Gag!)
Agatha Christie, Scherz
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