Der Wachsblumenstrauß
- Atlantik
- Erschienen: Januar 1954
- 56
- New York: Dodd, Mead & Company, 1953, Titel: 'Funerals are fatal', Seiten: 244, Originalsprache
- Bern: Scherz, 1954, Seiten: 191, Übersetzt: Lola Humm-Sernau
- Bern; München; Wien: Scherz, 1976, Seiten: 142, Übersetzt: Lola Humm-Sernau
- Bern; München; Wien: Scherz, 1987, Seiten: 194, Übersetzt: Lola Humm
- Bern; München; Wien: Scherz, 1992, Seiten: 194, Übersetzt: Lola Humm
- Bern; München; Wien: Scherz, 1998, Seiten: 194, Übersetzt: Lola Humm, Bemerkung: überarbeitete Fassung
- Bern; München; Wien: Scherz, 2000, Seiten: 286, Übersetzt: Ursula Wulfekamp
- Bern; München; Wien: Scherz, 2001, Seiten: 286, Übersetzt: Ursula Wulfekamp
- Frankfurt am Main: Fischer, 2003, Seiten: 288, Übersetzt: Ursula Wulfekamp
- Marburg: Verl. und Studio für Hörbuchproduktionen, 2004, Seiten: 5, Übersetzt: Martin Maria Schwarz, Bemerkung: ungekürzt
- Frankfurt am Main: Fischer, 2009, Seiten: 409, Übersetzt: Ursula Wulfekamp
- München: Der Hörverlag, 2011, Seiten: 3, Übersetzt: Oliver Kalkofe, Bemerkung: gekürzte Fassung von Ursula Honisch
- Hamburg: Atlantik, 2016, Seiten: 287, Übersetzt: Ursula Wulfekamp
Fatale Worte im Kreis verdächtiger Erben
Richard Abernethie ist plötzlich aber nicht unerwartet verstorben; er hatte schon lange an einer Herzschwäche gelitten, weshalb der Totenschein umgehend unterschrieben und das Testament bald darauf verlesen wird. Sechs Erben treffen sich mit scheinheiligem Desinteresse am Tag X auf Enderby Hall, denn Richard hatte das ohnehin beträchtliche Familienvermögen zusammengehalten und vermehrt.
Das Testament sorgt nicht für Unfrieden, denn Richard hat alle sechs Erbberechtigten gleichermaßen bedacht. Für einen Eklat sorgt erst Cora, die Schwester des Verstorbenen, als sie mit der für sie typischen Offenheit fragt, ob denn jeder wisse, dass Richard ermordet worden sei. Die Familie ist entrüstet, während Anwalt Entwhistle nachdenklich wird. Er kannte und schätzte Richard als Freund. Ist es bei seinem Tod nicht mit rechten Dingen zugegangen? Die Theorie wird zum Verdacht, als Cora kurz darauf in ihrem Heim mit einem Beil erschlagen wird. Was immer sie zu wissen glaubte, ist damit für die Polizei nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Entwhistle wendet sich deshalb an einen alten Bekannten.
Privatdetektiv Hercule Poirot ist zwar offiziell im Ruhestand, doch so ganz mag er von der Verbrecherjagd nicht lassen. Er zieht Erkundigungen ein, nach denen die Erben eher schlecht dastehen: Alle litten sie mehr oder weniger unter Geldproblemen, die durch Richard Abernethies Tod genau zum richtigen Zeitpunkt gelöst wurden.
Als kurz darauf ein weiterer Mordanschlag nur knapp entrinnt, weiß Poirot, dass jemand bemüht ist, lose Fäden aus einem Mordplan zu zupfen, der zwar zu erkennen aber kaum aufzuklären ist: Die Zahl der Verdächtigen ist groß, ihre Alibis fragwürdig. Dabei drängt die Zeit, denn der Täter wird nervös und jede Zurückhaltung fahren …
Verdächtige im halben Dutzend
In ihrem 44. Kriminalroman ließ Agatha Christie zum 29. Mal Hercule Poirot in Romanlänge ermitteln. Seit mehr als drei Jahrzehnten schrieb sie ihm Kriminalfälle auf den rundlichen Leib. 1953 zeigte die Verfasserin trotzdem in einem wichtigen Punkt keine Ermüdungserscheinungen: „Der Wachsblumenstrauß“ gehört zu den besten der an ausgezeichneten Werken ohnehin keineswegs armen Christie-Bibliografie!
Womöglich versöhnte es die Autorin, dass beinahe ein Drittel der Handlung verstrichen ist, bevor Poirot das erste Mal auftritt. Auch sonst hält er sich zurück, bevor er im genretypischen Finale die Bühne für sich allein beansprucht. Bis es soweit ist, übernimmt erst Anwalt Entwhistle die ‚Ermittlungen‘, die in seinem Fall einem beharrlichen aber hilflosen Stochern im Nebel gleichen. Auf diese Weise schürt Christie die Spannung, denn eines kann Entwhistle immerhin herausfinden: Sämtliche Erben sind potenzielle Verdächtige!
Dies mag zunächst das Normalste von der Welt in einen klassischen Kriminalroman sein. Schließlich kann sich der eigentliche Übeltäter unter denen ‚tarnen‘, die sich letztlich als unschuldig zumindest in diesem Fall erweisen. Normalerweise zappelt der oder die am wenigsten Verdächtige im Netz des Detektivs. Das war allerdings schon zu Christies Zeiten ein recht alter Hut, weshalb sie diese Erwartungshaltung von vornherein unterläuft.
Verräterische Details schürzen sich zu einer Schlinge
Unter denen, die sich anlässlich der Testamentseröffnung in Enderby Hall aufhalten, muss sich der Mörder (oder die Mörderin) befinden. So gebietet es eine gewichtige Regel des Rätsel-Krimis: Das „Spiel“ muss fair sein, weshalb auch Christie keinesfalls in letzter Sekunde neue Verdächtige auftreten lassen darf. Stattdessen muss sie sich um ein stetiges Gleichgewicht zwischen Schuld und Unschuld bemühen. Auf der einen Seite ist der Leser fest von der Schuld von X überzeugt, auf der nächsten rückt Y an dieser Stelle, dann kehrt X zurück … Christie beweist, wie dieser Jongleur-Akt auch mit einem halben Dutzend Figuren gelingen kann.
Nach vielen erfolgreichen Schriftstellerjahren hält die Autorin den roten Faden fest in der Schreibhand. Das andere Ende hat sie dem jeweiligen Leser fest um den Hals geschlungen. Er folgt willig ihren sanften aber entschlossenen Zügen, lässt sich dabei aufs Glatteis führen und wird gleichzeitig mit Andeutungen abgelenkt. Faktisch ließe sich schon vor dem Finale herausfinden, wer wen umgebracht hat, wäre da nicht ein ebenso hinterlistiger wie legitimer Trick, mit dem Christie das bisher ‚rekonstruierte‘ Bild des Mordgeschehens auf den Kopf stellt, weshalb die Karten neu gemischt und von Hercule Poirot ausgegeben werden.
Der hält sich wie gesagt zurück. Christie verrät dagegen deutlicher als sonst, wie sich das ‚Geheimnis‘ seines Ermittlererfolgs begründet: „Gespräche waren notwendig. Zahlreiche Gespräche. Denn nach einer Weile würden die Leute sich verraten, sei es durch eine Lüge oder durch die Wahrheit …“ (S. 205) Poirot ist in dieser Hinsicht jedes Mittel recht. Das schließt die Vorbehalte ‚vornehmer‘ Briten gegen ‚Ausländer‘ ein. Mit falscher Identität mischt sich Poirot als umständlicher, unbeholfener und deshalb unterschätzter ‚Fremdling‘ unter die Verdächtigen, die in seiner Gegenwart auf Zurückhaltung weniger Wert legen, weshalb Poirot jene Informationsfetzen findet, aus denen er die Fakten destilliert.
Neue Zeiten, aber keine frische Brise
„Der Wachsblumenstrauß“ weist einen düsteren Grundton auf. Das betrifft vor allem die Schar der Verdächtigen, unter denen sich zwar einige schöne, aber keineswegs hilflose Frauen befinden. Sämtliche Begünstigte des Abernethie-Erbes sind berechnende und auch sonst wenig sympathische Zeitgenossen. Unter ihnen sind Ehebrecher, ein verbitterter Simulant, besitzergreifende Gattinnen und ein Geisteskranker (der aber nicht der Mörder ist - das wäre zu simpel). Insgesamt sind die Frauen tatkräftiger als die Männer, denen Christie hier keine ausgeprägten Fähigkeiten zubilligt. (Poirot ist selbstverständlich die Ausnahme.)
Auch sonst schildert Christie eine Zeit des Umbruchs. Acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind dessen Folgen auch in England, das zu den „Siegermächten“ gehört, keineswegs überwunden. Gerade erst endete die Lebensmittelrationierung, doch sind beispielsweise Eier weiterhin rar. Zudem ist die Zeit der traditionellen Oberschicht endgültig abgelaufen. Richard Abernethie war der letzte Herr auf Enderby Hall, dessen Unterhalt sich keiner der Erben mehr leisten kann: Eine nun liberale Regierung hat im Rahmen umfangreicher Reformen ein Ende mit adligen Privilegien gemacht und besteuert die selbsternannte Elite nun ebenso gnadenlos wie den ‚normalen‘ Bürger. Enderby Hall wird verkauft und in ein Hotel oder ein Sanatorium verwandelt. Der tatterige Butler Lanscombe darf sich nicht auf einen Ruhestand im Pförtnerhaus freuen; er muss den Ort verlassen, an dem er nicht nur sein langes Berufsleben verbracht hat: Enderby Hall war Lanscombes Heim.
„Dienstboten“ lassen sich gut bezahlen und fordern Rechte ein. Der Postbote liefert nicht mehr in jedes Einöd-Haus. Die Polizei betritt ein vornehmes Haus durch den Vordereingang. Eine Hausdame sorgt sich, ob man sie für eine Lesbierin hält. Mehrfach werden „displaced persons“ - Kriegsflüchtlinge aus von Nazi-Deutschland terrorisierten Ländern - als höchstwahrscheinliche Mordverdächtige genannt: Immer wieder bricht die neue in die heile Welt des Kuschel-Krimis („cozy“) ein. Die verkraftet das problemlos, denn die systematische Ausblendung ‚störender‘ Realitäten ist erst ein Merkmal des modernen Rätsel-Krimis, der nur die Manierismen des Genres aufgreift, um das Zielpublikum wunschgemäß durch Mord-Märchen in sanften Feierabend-Dusel zu versetzen. „Der Wachsblumenstrauß“ wirkt dagegen erstaunlich modern und belegt, dass Agatha Christie ihren Status als Krimi-Meisterin verdient.
„Der Wachsblumenstrauß“ in Film und Fernsehen
Wer Agatha Christie aus dem Kino kennt, wird stutzen: Ermittelte 1963 nicht die unvergleichliche Margaret Rutherford als Miss Marple in „Der Wachsblumenstrauß“ (Originaltitel „Murder at the Galop“)? Für den Film wurde Poirot gegen die seinerzeit kassenträchtigere Marple ‚ausgetauscht‘. Das Drehbuch ließ sich angleichen, und als Autorin war Agatha Christie Kummer gewohnt bzw. Profi genug, um sich solche Veränderungen der Vorlage gebührend bezahlen zu lassen.
In der britischen TV-Serie „Agatha Christie's Poirot“ (1989-2013) kehrte - schon der Titel kündigt es an - werkgetreu Poirot (David Suchet in der Rolle seines Lebens) zurück. Episode 56 (aus Staffel 10, 2006) wich nunmehr in vielen anderen Aspekten von der Vorlage ab und spielte u. a. in den ‚nostalgischeren‘ 1930er Jahren.
Agatha Christie, Atlantik
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