Der Todeswirbel
- Atlantik
- Erschienen: Januar 1950
- 7
- New York: Dodd, Mead & Company, 1948, Titel: 'There´s a tide', Seiten: 242, Originalsprache
- Bern: Scherz, 1950, Seiten: 189, Übersetzt: Renate Hertenstein
- Frankfurt am Main; Berlin: Ullstein, 1969, Seiten: 158, Übersetzt: Renate Hertenstein
- Bern; München; Wien: Scherz, 1974, Seiten: 190, Übersetzt: Renate Hertenstein
- Genf: Edito-Service, 1982, Seiten: 173
- Bern; München; Wien: Scherz, 1989, Seiten: 177, Übersetzt: Renate Hertenstein
- Bern; München; Wien: Scherz, 1993, Seiten: 177, Übersetzt: Renate Hertenstein
- Bern; München; Wien: Scherz, 2001, Seiten: 203, Übersetzt: Renate Hertenstein
- Frankfurt am Main: Fischer, 2009, Seiten: 203, Übersetzt: Renate Hertenstein
Im tödlichen Sog von Not und Gier
Seit jeher haben sich die Geschwister Cloade - Arzt Lionel, Anwalt Jeremy und Schwester Adele - auf den ebenso reichen wie großzügigen Bruder Gordon verlassen. Er ließ sie finanziell nie im Stich, woran sich bereits die nächste Familiengeneration gewöhnt hat. Deshalb ist es schmerzlich, als Gordon im Herbst 1944 bei einem nazideutschen Bombenangriff auf London zu Tode kommt.
Noch schlimmer für die Familie: Der ewige Junggeselle hatte kurz zuvor geheiratet! Sein Vermögen geht daher nicht an die gierigen Erben, sondern an Rosaleen, die blutjunge Witwe. Sie wird von ihrem Bruder David Hunter beschützt sowie kontrolliert. Der zynische junge Mann weiß nur zu gut um den Zorn der Cloades, die sich um ihr Erbe betrogen fühlen, das sie keineswegs aufzugeben gedenken!
Es trifft sich gut, dass Rosaleen trotz ihrer Jugend schon einmal verheiratet war. Ihr Gatte ist in Afrika gestorben, doch trifft dies tatsächlich zu? Es wäre für alle Cloades ein Segen, würde sich der Gatte lebendig auftreiben lassen, da Rosaleen dann nur bigamistisch mit Gordon verheiratet gewesen und nie erbberechtigt gewesen wäre! Tatsächlich taucht in Warmsley Heath, wo der Stammsitz des Cloades liegt, im Spätfrühling 1946 ein Mann auf, der düstere Andeutungen macht, Schweigegeld fordert - und dann mit zerschmettertem Schädel in seinem Zimmer gefunden wird.
Hilfesuchend wendet sich die Familie ausgerechnet an Hercule Poirot, der schon von dem Fall gehört hat. Seine Neugier ist geweckt. Außerdem steht nun Rosaleen im Visier des Mörders: Stirbt sie, tritt die erwünschte Erbfolge wieder in Kraft! Da sämtliche Mitglieder der Cloade-Familie sich nachdrücklich verdächtig machen, bleibt Poirot ein kopfstarkes Feld potentieller Täter, das er mit der ihm eigenen Meisterschaft ausjätet ...
Agatha Christie gar nicht weltfremd
Gern konfrontieren Kritiker den klassischen „Whodunit“-Krimi mit dem Vorwurf offensichtlicher Realitätsferne. Verschrobene Charaktere werfen sich abseits eines Alltags, der zum Zweck der Unterhaltung ausdrücklich ausgeblendet wird, allerlei Untaten vor, während ein ebenso exzentrischer Ermittler die Rätselschwaden allmählich lüftet. Das muss man keineswegs als Kritikpunkt werten. Stattdessen kann man den Autorinnen und Autoren zugutehalten, dass sie sich auf einen Plot konzentrieren, der ein möglichst verflixtes Verbrechen ins Zentrum stellt.
Auch Agatha Christie wird gern als Repräsentantin solcher ‚Realitätsflucht‘ genannt. Wie der hier vorstellte Roman „Der Todeswirbel“ belegt, trifft dies nicht immer zu. Christie wurde erst nach ihrem Tod zur einer ‚klassischen‘ Autorin, deren Detektive in einer „guten, alten Zeit“ ermitteln. Nachträgliche Veränderungen haben dies vor allem in den Kino- und TV-Filmen konserviert, die nach Christie-Werken entstanden.
„Der Todeswirbel“, ihr 38ter Kriminalroman verbindet jedoch ‚altmodisches‘ bzw. gediegenes Handwerk mit einer durchaus zeitgenössischen Rahmenhandlung, die den Hintergrund der für die Handlung gewählten Zeit berücksichtigt. Christie hat vielleicht den Zweiten Weltkrieg, aber nie seine Folgen für eine englische Gesellschaft ignoriert, die in einen Umbruch geriet, der ‚alte Werte‘ ad absurdum führte.
Welt im Wandel, doch weiterhin regiert vom Geld
Mit dem zwar gewonnenen, aber von der endgültigen Auflösung des britischen Kolonialreiches gefolgten Zweiten Weltkrieg begann Englands langsamer, aber unaufhörlicher Abstieg. Politisch wurde die einst größte Macht auf Erden von den USA überholt. Wirtschaftlich litt das Land unter den Folgen eines Krieges, der die finanziellen Reserven erschöpft hatte. Das Gesellschaftssystem geriet ins Rutschen. Jene oft adlige Oberschicht, die bisher quasi steuerfrei ein elitäres Leben geführt hatte, wurde nun durch Abgaben so belastet, dass über Jahrhunderte bewohnte Familiensitze verkauft oder in Hotels umgewandelt werden mussten. Auch müßige „Rentiers“ oder ehemalige Offiziere, denen ihre Pensionen ein bequemes Altersleben ermöglicht hatten, standen vor dem Nichts, weil neue Steuern und die Nachkriegsinflation ihre Rücklagen buchstäblich fraßen.
Jeder Wandel bringt Gewinner und Verlierer hervor. Christie fand das Personal ihres Kriminalromans unter letzteren. Die Cloades stehen auf beiden Seiten der Münze: Gordon war und blieb reich, während seine Geschwister und deren Nachkommen ihre Privilegien eingebüßt haben. Da Gordon ihnen großzügig unter die Arme griff, konnten die ‚armen‘ Cloades trotzdem jenes Leben fortsetzen, auf das sie einen Anspruch erheben. Sie gehörten zu jenen ‚vornehmen‘ Familien, die sich die Widrigkeiten der Haushaltsführung durch den Einsatz schlecht bezahlter Dienstboten vom Hals hielten. Doch selbst eine großzügige Entlohnung lockt keine Diener mehr. Die ‚neue‘ Gesellschaft bietet interessantere Verdienst- und Lebensmöglichkeiten.
So gewinnt „Der Todeswirbel“ durch die Präsenz einer Familie, die jede Zurückhaltung aufgibt, um eine lästige Erbin aus dem Weg zu räumen, eine Dynamik, die über die übliche Krimi-Spannung hinausgeht bzw. diese dank Christies Talent steigert. Die Cloades haben alle Dreck am Stecken. Trotzdem erwecken sie beinahe Mitleid, wie sie ebenso skrupellos wie verzweifelt den Schein zu wahren suchen und zu jeder Schandtat bereit sind, um an das verachtete, aber nunmehr unverzichtbare Geld zu kommen!
Detektiv im Hintergrund
Nicht zum ersten Mal gerät Hercule Poirot quasi ‚zufällig‘ in die schon angelaufenen (kriminellen) Ereignisse. Ein Prolog spielt im Kriegsjahr 1944 und versorgt den Detektiv mit Basisinformationen, die ihn später zur Übernahme des Falls veranlassen. Dieser entpuppt sich als erstaunlich ‚modernes‘ Verbrechen, obwohl er (s. o.) in einer Vergangenheit wurzelt, die von den Betroffenen mehrheitlich als verlorenes Paradies betrachtet wird.
Poirot gerät erst einmal außer Sicht und kehrt erst in eine Handlung zurück, die schon weit fortgeschritten ist. Eigentlich müssten wir Leser dem Detektiv voraus sein, doch Autorin Christie mischt die Verdachtsmomente so sorgfältig ein, dass wir ratlos bleiben, zumal sich ‚deutliche‘ Hinweise auf die Schuld bestimmter Figuren notorisch in Luft auflösen. Erst Poirot bringt Ordnung in das von Christie verursachte Durcheinander. Die Auflösung ist - dies sei vorweggenommen - nicht unbedingt genial, doch der Weg dorthin eine Freude.
Der Schlüssel zur Lösung ist es, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Menschen reden, und dabei äußern sie entlarvende Details, selbst oder gerade, weil sie eine Schuld vertuschen. So brillant wie selten bringt sich Poirot in Stellung, hört zu, registriert, lässt die Verdächtigen sich selbst freisprechen oder in dem einen, krimirelevanten Fall entlarven. Oft ist Poirot aufdringlich, wirkt selbstgefällig oder sogar wie seine eigene Karikatur. Hier gelingt Christie die Darstellung eines Ermittlers, der genau weiß, an welchen Fäden er zupfen muss, um die böse Spinne irgendwo in ihrem dunklen Netz ans Licht zu locken.
Anmerkung: Wie so oft bedient sich Christie eines literarischen Zitats, um ihrem Roman einen Titel zu geben. Dieses Mal zitiert sie William Shakespeare bzw. Brutus, der im vierten Akt des Theaterstücks „Julius Caesar“ so spricht: „Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt / Nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück / Versäumt man sie, so muß die ganze Reise / des Lebens sich durch Not und Klippen winden.“
„Der Todeswirbel“ im Fernsehen
Selbstverständlich klärt Poirot in der legendären britischen TV-Serie „Agatha Christie’s Poirot“ auch diesen Fall. In Staffel 10, (Lang-) Folge 4 verkörperte David Suchet 2006 den Meisterdetektiv mit der üblichen Präsenz.
Fazit
Sein 23. Kriminalfall führt Hercule Poirot einmal mehr in eine ‚unschuldige’ englische Kleinstadt, wo erst recht das Böse lauert. Dieser Roman wirkt überraschend zeitaktuell, präsentiert Poirot als ‚psychologisch vorgehenden‘ Detektiv und Agatha Christie als Autorin auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskräfte.
Agatha Christie, Atlantik
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