Nordwasser
- Lübbe Audio
- Erschienen: Januar 2018
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- London: Scribner, 2016, Titel: 'The north water', Seiten: 326, Originalsprache
- Köln: Lübbe Audio, 2018, Seiten: 8, Übersetzt: Wolfram Koch
Wie viel vom Tier steckt noch im Menschen?
Hitze ist schlimm, nach diesem Buch wirkt Kälte schlimmer. Nordwasser beschert uns Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, und das in jeglicher Hinsicht. So der Eindruck, wenn man diesen außergewöhnlichen Roman nach der letzten Seite erschöpft aus den Händen legt. Der Leser kann nach dieser 302 Seiten währenden schockierenden Zeitreise in die Welt des Walfangs Mitte des 19. Jahrhunderts nur hoffen, nicht von Albträumen verfolgt zu werden. Nordwasser von Ian McGuire ist ein schamloses, extrem brutales, gewalttätiges Buch mit dem Bruch sämtlicher Tabus. Hier klebt es an allen Ecken und Enden, klebt vom Dreck, verschütteten Rum, ranzigen Tran-Öl, Blut und Sperma. Es stinkt und glibbert überall: in den düsteren Häfen mit seinen Spelunken und schmuddeligen Freudenhäusern, und auch an Bord der "Volunteer", eines in die Jahre gekommenen Walfangschiffes unter britischer Flagge. Auch die "Volunteer" ist kein Ort hygienischer Reinheit und kameradschaftlicher Verlässlichkeit. Hier herrscht die rüde Männerwelt, kalt an Seele und Klima.
Nix mit christlicher Seefahrt
Die Erdölförderung steckte in den Kinderschuhen, an gut funktionierende Petroleumlampen war noch nicht zu denken. Tranfunzeln erhellten die düsteren Abende mehr schlecht als recht. Sturm-anfällige Segelkolosse statt späterer Dampfschifffahrt beherrschten die Walfisch-Expeditionen ins ewige Eis, um im Nordwasser von Grönland rücksichtslose Jagd auf den begehrten Rohstoff Walspeck zu machen.
Vor 200 Jahren war Walfang ein lukratives Geschäft und im Nordatlantik der kanadischen Arktis weit verbreitet. Bis zu 900 Schiffe waren auf der Jagd. Die Nachfrage nach Tran hatte zur Folge, dass das Abschlachten der Wale deren Population gehörig aus dem Gleichgewicht warf. Die Fanggebiete mussten immer mehr ins grönländische Nordmeer ausgedehnt werden, um fündig zu werden. Das schmälerte nicht nur die Erfolgsaussichten und damit den Gewinn, auch die Moral der Schiffsbesatzungen sank dabei oft auf den Nullpunkt. Das tagelange Herumschippern im widrigen Wetter bei strömendem Regen und dichtem Nebel, ohne Aussicht auf Fangerfolge, ließ Langeweile aufkommen, und Langeweile ist ein Feind der Menschlichkeit. Die gnadenlose Hatz auf Robben und Eisbären sind bei dieser aufkeimenden Langeweile dann auch willkommene Abwechslung für die jagdgeilen Harpuniere und Büchsenschützen. Diese Schilderungen sind erschreckend detailliert, nicht nur Tierschützer werden unangenehm berührt sein.
Moral der Walfangcrew nähert sich den Außentemperaturen immer mehr an
Zu dieser Zeit der immer erfolgloseren Jagd auf die riesigen, immer seltener anzutreffenden Meeressäuger spielt die Handlung des Romans des britischen Schriftsteller Ian McGuire, und sie spielt sich ab auf der "Volunteer", die als Harpunen-Walfangschiff in die Jahre gekommen ist und eine beklemmende Atmosphäre ausstrahlt. Die klimatischen Bedingungen während der Expedition sind überaus hart: Die enorme Kälte, die eisigen Winde, Nebel und Niederschläge tun ein Übriges, um die Moral der Walfangcrew den Außentemperaturen immer mehr anzunähern. Der Flickenteppich aus Eisschollen und Schneematsch wird für die "Volunteer" mit der "Hastings" als Begleitschiff zur bedrohlichen Expedition ins arktische Terrain.
Dabei ist der eigentliche Sinn der Fangexpedition ein kalkulierter Versicherungsbetrug: Reeder Baxter plant die Karambolage und Versenkung seines marode gewordenen Walfangschiffes im arktischen Packeis, um Geld zu scheffeln. Dafür muss sein eingeweihter Kapitän Arthur Brownley jedoch äußerst geschickt vorgehen. Das Schiff muss langsam untergehen, um die Fracht des Walfangs noch zu retten, aber zugleich so schnell, dass keine Notreparaturen in letzter Sekunde mehr möglich sind. Das schlecht voraussehbare Verhalten des Packeises ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor. Schließlich muss die Aktion so glaubwürdig sein, dass die mit vielen Tricks vertrauten Versicherungsgutachter später nicht Lunte riechen, unnötige Nachfragen stellen und vielleicht sogar die Zahlung der Versicherungssumme verweigern. Die Zukunft der Schiffsbesatzung ist Baxter bei diesem geplanten Coup relativ schnuppe. Die Aussichtslosigkeit einer erfolgreichen Walfangexpedition ist eingeplant, die wahren Beweggründe des Schiffseigners werden der Mannschaft natürlich vorenthalten.
Für den Profit wird alles abgeschlachtet, was sich bewegt
Nordwasser weckt Erinnerungen an die Klassiker des Fischfangs wie "Moby Dick" und "Der alte Mann und das Meer", hat aber wenig mit beiden gemeinsam. Bei Conrad und Hemingway hatte der Leser das Gefühl eines Kampfes zwischen Mensch und Tier, einer entstehenden Hassliebe, eines sich entwickelnden "Stockholm-Syndroms" zwischen Täter und Opfer, wo jede Seite die Chance zum Gewinn zu haben schien. Bei Ian McGuire geht es um das profitable Abschlachten von allem, was sich bewegt: Wale, Robben, Eisbären, selbst Eskimos. Die Kämpfe sind unfair, nicht nur zwischen Tier und Mensch, sondern mehr noch innerhalb der Schiffsbesatzung. Das ist schockierend, macht wütend.
Nordwasser ist ein Buch wie aus einer anderen Zeit, fernab von friedlichem Gemeinwohl. Das Werk ist ein nachhaltig beeindruckender Histo-Noir mit einer Ekel-Spannung, der man sich nur schwer verweigern oder entziehen kann. Die Botschaft, welche Ian McGuire mit seinem Roman aus einer trostlosen Welt vermitteln will, blieb mir jedoch verschlossen. Aber vielleicht ist es ganz einfach die dankbare Feststellung, nicht am falschen Ort, zur falschen Zeit und in einem solchem Umfeld geboren worden zu sein.
Ungewöhnlicher Schreibstil, ungeheure Protagonisten
Auffällig ist der journalistische Schreibstil, die sachlich-emotionslose Schilderung von schlimmen Geschehnissen aus dieser verlorenen und zu unserem Glück vergangenen Welt. Bis auf wenige Momente sind alle Akteure geprägt von niederen Instinkten. Es ist erstaunlich, wie viel Leid, Strapazen und Kälte diese tumben Männer bis zum bitteren Ende auszuhalten haben. Eine etwas sensiblere Gestalt ist der irische Schiffarzt Patrick Sumner, der zur Freude des Schiffseigners weit unter Normalsold auf der "Volunteer" angeheuert hat. Sumner war zuvor als britischer Militärarzt in Indien stationiert, als der Aufstand der einheimischen Bevölkerung gegen die Kolonialmacht blutig niedermetzelt wurde. Seitdem an Körper und Seele dauerhaft verletzt, will er mit Hilfe von Laudanum, einer Opium-Tinktur, mit der er sein Arztköfferchen zum Eigenbedarf großzügig bestückt hat, und der ihn ständig begleitenden "Ilias" von Homer - seine traumatischen Erinnerungen an die verheerenden Bedingungen im Feldlazarett verdrängen:
"Ständig treffen dreißig oder mehr Karren ein, die Tote und Verwundete bringen, manchmal drei und vier gleichzeitig. Die entstellten und verstümmelten Leichname junger Männer werden in ein übel riechendes Nebengebäude abgekippt. Die Zuckungen der Verwundeten, die Schreie der Sterbenden. Amputierte Gliedmaßen, die in Metallwannen fallen. Die unablässige Geräuschkulisse, von Stahl, der sich durch Knochen frisst, wie in einer Werkstatt oder Sägemühle. Der Boden nass und klebrig von vergossenem Blut, die nie enden wollende Hitze, das Donnern und Beben von Artilleriefeuer und Schwärme schwarzer Fliegen, die sich auf allem und jedem niederlassen, unablässig und gleichgültig - in Augen, Ohren und Mündern, in offene Wunden. Der unglaubliche Schmutz überall, das Heulen und Flehen, das Blut und die Scheiße und die endlosen, endlosen Schmerzen."
Das und noch einiges mehr will Sumners vergessen oder wenigstens erfolgreich verarbeiten. Jedoch entpuppt sich die "Volunteer" dafür als der völlig falsche Ort. Noch ahnt er nicht, dass er eigentlich vom Regen in die Traufe kommt, und auch nicht, dass ein riesiger Eisbär nicht nur töten, sondern unter schlimmen Umständen auch Leben retten kann. Aber das ist eine unheimliche Episode ganz für sich...
Die schlimmste Kreatur dieses Krimis ist zweifelsohne Henry Drax, ein Harpunier, der auf alles, was sich bewegt, ohne jeden menschlichen Skrupel und selbst völlig schmerzfrei losgeht. Er giert nach Blut, schlachtet wahllos Robben, Eisbären und Menschen ab, skrupellos und ohne Reue. Er vergewaltigt, lügt und diffamiert. Henry Drax ist ein animalischer Triebmensch, eine Bestie, für die Moral und Ethik Fremdwörter sind und bleiben werden. Der Leser wird sehr, sehr lange darüber nachdenken müssen, im bisherigen Lesealltag so einem Monstrum von Mensch begegnet zu sein. Dagegen heben sich die Ureinwohner Grönlands trotz - oder gerade wegen - ihrer fast simplen Ehrlichkeit, weil fernab jeglicher Zivilisation, fernab von Egoismus, erfrischend ab, lassen Hoffnung aufkeimen, auch unter harten Bedingungen zufrieden und in sich ruhend leben zu können. Schöne Schilderungen, die die Seele streicheln und den Glauben an das Gute im Menschen wieder festigen.
Nordwasser wurde aus dem Englischen ungeschminkt und zu einem Kopfkino bildhaft übersetzt von Joachim Körber, dem auch schon Werke von Stephen King, Dean Koontz und Ray Bradbury anvertraut wurden. Seemännische Fachkenntnis wäre bei einigen Passagen hilfreich, ist aber nicht zwingend notwendig. Für Seebären haben sie vermutlich angenehmes Identifikationsgefühl.
Nordwasser wurde im Erscheinungsjahr 2016 von der "New York Times" zu einem der "10 besten Bücher des Jahres" gekürt. Und das ist bei der Explosivität des Stoffes und dessen literarischer Verarbeitung durchaus nachvollziehbar.
Ian McGuire, Lübbe Audio
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