the woman in the window - was hat sie wirklich gesehen?
- Blanvalet
- Erschienen: März 2018
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- München: Blanvalet, 2018, Seiten: 544, Übersetzt: Christoph Göhler
Spannende, emotionale Geschichte mit hohem Suchtpotential
Sie verbringt den Tag mit Online-Schach, als Ratgeberin in Chatrooms für andere Betroffene und dem Schauen von Schwarz-Weiß-Klassikern, die sie in Massen besitzt. Die meiste Zeit aber beobachtet sie ihre Nachbarn durch die Linse ihrer Kamera. Dabei wird ihr aber immer wieder klar, wie sehr sie ihren Mann Ed und ihre kleine Tochter Olivia vermisst, die beide nicht mehr mit ihr zusammen leben, mit denen sie aber oft und lange telefoniert. Direkten Kontakt hat Anna nur noch zu ihrem Untermieter David, ihrer Physiotherapeutin Bina und ihrem Psychotherapeuten Dr. Fielding.
Erst als Familie Russel nebenan einzieht und Mutter Jane und Sohn Ethan zu ihr Kontakt aufnehmen, wird das Leben von Anna etwas abwechslungsreicher. Doch dann sieht sie, wie Jane ermordet wird. Aber die Polizei findet keine Leiche und ihr wird eine fremde Frau als Jane vorgestellt. Hat sich Anna alles nur unter dem Einfluss von Medikamenten und Alkohol eingebildet? Was ist Wahrheit, was Einbildung? Anna kämpft mit ihrer Krankheit und um ihre Glaubwürdigkeit.
Die Einsamkeit einer starken Protagonistin
Alle Achtung, A.J. Finn schafft es als Mann, eine dermaßen starke Protagonistin zu kreieren, dass man vor ihm nur den Hut ziehen kann. Anna wird mit einem so präzisen, aber auch sehr einfühlsamen Schreibstil geschildert, dass es dem Leser nicht schwer fällt, sich auf sie einzulassen. Dazu kommt, dass die ganze Geschichte aus Annas Sicht geschrieben ist, was eine Identifikation mit ihr fördert. Eingetaucht in die Gefühlswelt dieser leidenden, sich selbst vernachlässigenden Frau, ist Mitgefühl eine spontane Emotion.
Man geht mit ihr von einem Zimmer in das andere, spürt die Einsamkeit in dem großen Haus, aber auch die panische Angst vor dem Leben jenseits dieser Mauern. Das Verlangen nach dem Glas Merlot, nach den Tabletten, um sich zu betäuben, zu schlafen oder um sich wach zu halten, wird greifbar. Und dann die verzweifelte Angst, sich alles nur eingebildet zu haben, aber gleichzeitig auch die Gewissheit, dass alles real war, doch real gewesen sein muss, damit man nicht völlig durchdreht, ist so gut geschildert, dass dem Leser gar keine andere Wahl bleibt, als mit Anna zu leiden, zu hoffen und ein Stück weit mit ihr zu leben.
Komplexe Charaktere in einem perfekt konstruiertem Plot
Aber nicht nur Anna wird dem Leser so plastisch geschildert, auch alle anderen Charaktere werden vor dem Auge des Lesers zu unverwechselbaren Personen. Der gutaussehende, handwerklich geschickte Untermieter, der schlacksige Teenager, der "Goodcop" und sei Pendant, der "Badcop", die energiegeladene Therapeutin und natürlich Ed und Olivia, die Anna unendlich fehlen. Durch authentische und mit viel Empfindsamkeit geschilderte Dialoge erscheinen sie dem Leser als reale Personen, die mit Anna auf die ein oder andere Weise verbunden sind.
Alle zusammen werden in einem perfekt konstruiertem Plot zum Leben erweckt, in dem man zunächst alles für real hält. Der Leser sieht mit Anna den Mord im Nachbarhaus, erlebt aber auch ihre Angst, völlig verrückt zu werden, als die angebliche Realität immer mehr zur Einbildung wird. Die ersten Hinweise darauf versetzen den Leser zusammen mit Anna in eine ständige Ungewissheit, was Tatsache und was Täuschung ist.
Immer wieder werden Fakten zu Fiktion, was Spannung von Anfang bis Ende der Geschichte garantiert. Der Plot ist so perfekt konstruiert, dass alles ineinander verwoben scheint und man nur langsam Schritt für Schritt zur Wahrheit kommt. Wie die Wahrheit dann tatsächlich aussieht ist bis zum Schluss ungewiss und in keiner Weise vorherzusehen.
Eine Geschichte wie ein Hitchcock-Film
Ja, es ist wahr, The Woman in the Window erinnert stark an Das Fenster zum Hof. Aber was als einfallsloses Abkupfern eines Plots erscheinen kann, ist doch nur der Schlussstein zu einem geschlossenen Kreis. Anna ist großer Liebhaber von Schwarz-Weiß-Filmen, zu denen auch Klassiker von Hitchcock gehören. Sie erlebt, was die Helden ihrer Filme auch durchmachen mussten. Misstrauen, Anschuldigungen, die Angst als unzurechnungsfähig betrachtet zu werden, und der aus dem allen resultierende Wunsch, dem Leben ein Ende zu setzen. In ihrer Verzweiflung und Einsamkeit sieht Anna sich immer wieder die Filme an. Sie muss sich sehend bestätigen, dass andere solche verfahrenen Situationen auch erlebt haben und da raus gekommen sind. Hitchcock und Co. sind Therapie und die Schauspieler in ihren Rollen Freunde und Rückhalt in der Leere.
Achtung, der Thriller macht süchtig!
Dieses Buch sollten Sie nur in Angriff nehmen, wenn Sie in der nächsten Zeit nichts anderes zu tun haben. Es macht absolut süchtig! A.J. Finn schafft es mit seinem Erstlingswerk den Leser zu bannen und zwar von der ersten Seite an. Für die restlichen 540(!) Seiten igelt man sich am besten, wie Anna, in den eigenen vier Wänden ein, entkorkt eine (oder mehrere) Flaschen Merlot und taucht ab in das Haus in Harlem, New York City.
Dass es trotzdem 2° Abzug gibt, liegt an den teilweise sehr ausführlichen Dialogen oder Situationsbeschreibungen, die zwar wirklich gut konstruiert sind, aber den spannungsgeladenen Leser, der unbedingt wissen will, wie es weiter geht und welche Überraschung als nächstes um die Ecke kommt, zum Querlesen verleiten. Das wird der brillianten Geschichte nicht gerecht, passiert aber automatisch, wenn man die Dramatik einfach nicht mehr aushält und das ist in The Woman in the Window wirklich oft der Fall.
A. J. Finn, Blanvalet
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