Der Klügere lädt nach
- Nagel & Kimche
- Erschienen: Januar 2018
- 2
- Zürich: Nagel & Kimche, 2018, Seiten: 201, Übersetzt: Dirk van Gunsteren
Hinterwäldler bleiben unter sich
County Sheriff Lucian Wing hat sein eigenes Erfolgsrezept: Ruhe bewahren, sich nicht einmischen, denn wenn man sich einmischt, wird es meistens nur noch schlimmer. Terry St. Clair, ein bekannter Kleinkrimineller und Plagegeist in jenem nördlichen Tal Vermonts, in dem Wing seinen Dienst versieht, wird eines nachts von Stephen Roark, dem "großen Vorsitzenden", auf einer Straße aufgelesen und ins Krankenhaus gebracht. Nun fehlt dem jungen Mann die linke Hand und Roark erwartet, dass Wing ermittelt. Nachdem St. Clair dem Sheriff jedoch erklärt, er sei mit seiner Hand lediglich in eine Heupresse geraten, ist der Fall für Wing erledigt, obgleich die Lüge offensichtlich ist.
"Und das war alles? Ihr Freund wird vor ihren Augen nach Strich und Faden verprügelt. Er verliert ein Auge und wird verschleppt - und Sie gehen zur Arbeit? Ohne uns anzurufen?"
"Nelson sagt immer, wenn irgendwas passiert, darf man nicht die Bullen rufen. Höchstens wenn einer tot ist. Aber ich glaube nicht, dass er tot war. Er hat ziemlich geblutet, und wenn man tot ist, blutet man nicht, oder?"
Als wenig später einem ähnlich dubiosen Mitglied der Gesellschaft sein linkes Auge herausgetrennt wird, sieht Wing ebenfalls kaum Handlungsbedarf, so dass ihn nun Roark endgültig als völlig unfähig ansieht - und den Druck maximal erhöht. Dabei macht er allerdings die Rechnung ohne die Einheimischen im Hinterland von Vermont, die seit jeher ihre Probleme selber lösen...
Skurril wie schon die Vorgänger - aber jederzeit sprachlich präzise
Castle Freeman benötigt nicht viel Raum und Worte, um seine Charaktere zu zeichnen, seine Geschichte zu erzählen und seine Leser mit kargen Dialogen ebenso schräg wie großartig zu unterhalten. Nach "Auf die sanfte Tour" und "Männer mit Erfahrung" geht es erneut ins Hinterland von Vermont, wo auch der Autor beheimatet ist.
Im aktuellen Fall findet Sheriff Wing keine Ruhe. Ein persönlicher Alptraum, denn eigentlich möchte er nichts anderes, außer vielleicht noch ein bisschen Understatement, damit man ihn bei Bedarf unterschätzt.
"Ganz gleich, um was es geht - ich war und bin der Meinung, wenn etwas geschehen muss, sollte man möglichst gar nichts tun. In neun von zehn Fällen stellt sich nämlich heraus, dass jedes Eingreifen unnötig war."
Gleich drei Gründe sorgen dafür, dass Wing keine Ruhe findet. Seine Mutter Lorrie wird zunehmend dement, seine Frau Clemmie hat ihn vor die Tür des eigenen Hauses gesetzt und vergnügt sich nun mit dem debilen Ex-Deputy Jake Stout, so dass Wing notgedrungen auf dem abgenutzten Sofa seines Büros übernachtet.
Und dann sitzt ihm noch Stephen Roark im Nacken, der kürzlich den Vorsitz des Gemeinderates von Cardiff übernommen hat. Eigentlich will Wing den neu Hinzugezogenen einfach aussitzen, doch Roark war vor seinem Ruhestand beim Pentagon und kommandiert einfach weiter. Besser als all die Hinterwäldler weiß er es sowieso.
"Könnte nicht mal jemand mit ihm reden? Mit Jake Stout, meine ich. Über diese blöde Situation."
"Auf was für einer Grundlage? Er hat gegen kein Gesetz verstoßen."
"Das hab ich auch nicht gesagt. Ich hab nur gesagt, jemand könnte mal mit ihm reden."
"Jemand?"
"Jemand."
"Reden?"
"Reden."
Beeindruckend wie wenig Worte der Autor benötigt, um seine schrulligen Figuren zu zeichnen, wobei dieses Mal gleich drei Frauen im Vordergrund stehen. Neben Lorrie und Clemmie wäre da nämlich noch die rothaarige Olivia Gilfeather zu nennen, Wings schießfreudige neue Deputy, die zuvor bei den Marines war.
Hinzu kommt - wie schon bei "Männer aus Erfahrung" - eine illustre Runde, die in abgedrehten Dialogen über das Leben philosophiert und Probleme jeglicher Art auf ihre Weise löst. Dazu gehören Ex-Sheriff Ripley Wingate (Wings Vorgänger), Ex-Constable Homer Patch und Cola Hitchcock, dem der Schrottplatz in Dead River gehört.
"Ob es dir gefällt oder nicht - es ist eine Situation, und für Situationen sind wir zuständig. Um die kümmmern wir uns."
"Der Klügere lädt nach" ist kein Roman für klassische Krimifans. 19 Euro für rund 200 Seiten wollen gut investiert sein und sind es nur, wenn man sich auf diesen ausgefallenen Plot und Erzählstil einzulassen vermag. Ermittelt wird eigentlich nicht, denn dann würde es ja noch hektischer werden. Zumal sich am (moralisch gänzlich unkorrekten) Ende herausstellt, dass in der Tat jede Ermittlung unnötig gewesen wäre.
Castle Freeman, Nagel & Kimche
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