Von Vögeln und Menschen
- Hanser
- Erschienen: Januar 2018
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- Amsterdam: De Bezige Bij, 2016, Titel: 'Van vogels en mensen', Seiten: 250, Originalsprache
- München: Hanser, 2018, Seiten: 263, Übersetzt: Helga van Beuningen
Das Verlangen nach Glück: Mord - Rache - Mord
Vergangenheit: Louise Bergman kümmert sich um den wohlhabenden 90-jährigen Bruno Mesdag. Sie führt ihm den Haushalt und singt ihm vor, klar wie eine Nachtigall. Bruno liebt Louise. Klazien Wroude, eine Hornhautschaberin, die eigentlich Chirurgin werden wollte, sucht Bruno alle zwei Wochen als Fußpflegerin auf. Bis Bruno eines Tages ermordet wird. Louise ist natürlich die Hauptverdächtige, die polizeilichen Ermittler konstruieren aus wenigen Informationen eine für sie naheliegende Geschichte der Tat. Das Wie und das Wo der Tat werden Louise im Gehirn als Wissen verankert, weshalb sie einsieht, dass sie die Täterin sein muss.
Das Motiv hingegen spielt keine Rolle. Louise träumt von ihrer Schuld und gesteht den Mord, den sie nicht begangen hat. Sie wird verurteilt, nachdem ihr Widerruf als kontraproduktiv bewertet wurde. Sie kommt ins Gefängnis, ihr Mann trennt sich von ihr, die neunjährige Tochter Marie Lina bleibt traumatisiert zurück.
Gegenwart: Marie Lina ist glücklich verheiratet mit Rinus Caspers. Der arbeitet am Flughafen Schiphol als Vogelvertreiber, meist in Begleitung seines Hundes Sjaak, dem es nicht gefällt, wenn er einmal nicht mitdarf. Dann wartet er und schnuppert Informationen aus Rinus' Kleidung heraus, die er lieber vor Ort gesammelt hätte. Als Marie Lina von der Unschuld ihrer Mutter erfährt, ergreift sie das Verlangen nach Rache.
Drei Frauen bestimmen die Handlung
Ein Beziehungsdreieck aus Frauen bestimmt die Handlung in "Von Vögeln und Menschen": eine nicht geständige Mörderin, eine geständige Mörderin und eine geständige Nicht-Mörderin.
Der Roman besteht aus 264 Seiten und vier Teilen, die keine Titel haben, nur nummeriert sind. Die 42 Kapitel sind im Schnitt grob jeweils sechs Seiten lang. Die Perspektive wechselt zwischen einer Erzählinstanz mit Nähe zu den Figuren und Abstand zum Geschehen sowie Louise, Marie Lina, Rinus, Bruno und Klazien, die in der Ich-Form erzählen. Margriet de Moor dreht die Zeitanzeige vor und zurück, erklärt nichts, es gibt keine Ausschmückungen.
Strukturell bewegt sich De Moor auf vertrautem Terrain. In ihrem historischen Roman "Der Maler und das Mädchen" beschreibt sie zwei Qualitäten von Mord, erzählt in Rückblenden die Biografien ihrer beiden Hauptfiguren. Sie stellt Fragen nach dem Warum, darunter die nach der Ursache für fehlende Reue. "Mélodie d'amour" hat einen Erzähler in der dritten Person und drei Ich-Erzählerinnen. Spielarten der Liebe unterscheiden sich hier in ihrer Belastbarkeit. Louise Bergmans Familie zerbricht an einer Tat, die Louise nicht begangen hat, Marie Lina wird gestärkt, auch durch die von ihr begangene Tat.
Ein Geständnis als Ausgangs- und Mittelpunkt
Auf geschickte Weise führt De Moor in "Von Vögeln und Menschen" ihre Figuren ein. Louises Geschichte, mehr noch ihr Geständnis, bildet den Mittelpunkt eines narrativen Netzes, das die zeitlich folgenden Geschehnisse enthält. Den Roman zeichnet eine große Meisterschaft in der Konstruktion von Figuren und Handlung zu einem konsistenten Gewebe aus.
Was Margriet de Moor über ihre Figuren offenbart, das erfahren wir weniger chronologisch oder inhaltlich zusammenhängend. Sie taucht in die Biografie einer Figur zu einem bestimmten Zeitpunkt ein, verlässt sie wieder, um sich etwas anderem zuzuwenden, und gelangt auf diesem Wege zu einem eher assoziativen Erzählstil, der uns die Protagonistinnen nahebringt, ohne sie psychologisch anzureichern oder auszudeuten. Wir erfahren viel über die Personen, aber zugleich bleiben sie uns fremd wie im realen Leben. Die Figuren leben mit anderen zusammen, manche lieben einander, aber niemand scheint den Menschen, der ihm etwas bedeutet, ausloten und verstehen zu wollen. Abgesehen von Rinus, der mehr über Marie Lina weiß, als sie ahnt.
Die Figuren werden charakterisiert durch ihr Handeln. Daraus entsteht ihre Individualität. Figuren und Handlungen sind eng aneinandergebunden. Manche Handlungen sind sittliche Verfehlungen. Aber sie erlauben keine Rückschlüsse auf einen ebensolchen Charakter. De Moor erzählt ihre Geschichte so, dass am Ende, zumindest sinnvoll, keine Interpretation möglich ist, die binär zwischen Schuld und Unschuld unterscheidet.
Durch Verlangen, Sehnsüchte und schlechte Selbstkenntnis Getriebene
Margriet de Moor entwickelt eine Krimihandlung, die in ihrer banalen Beiläufigkeit gruselig-nüchtern wirkt. Im Leben gerät man an eine Wegverzweigung, muss eine Entscheidung treffen, tötet einen und verändert dadurch das Leben weiterer Menschen. Eine Frau ermordet einen Mann, eine andere Frau gesteht die Tat und kommt ins Gefängnis, eine weitere Frau &nun, lesen Sie selbst. Das könnte zum Drama wie auch zur Komödie werden.
Bei De Moor aber ist es zu einem märchenhaft erzählten bürgerlichen Geschehen geworden, aus dem sich auch eine Familiengeschichte ergibt. Und zu einer Tragödie. Die Tragik, durch welche die Handlung getrieben wird, besteht in drei Dingen: der Manipulation Louises im Verhör, dem Geständnis als Ergebnis eines Traumerlebens und der Weigerung im Prozess, den Widerruf anzuerkennen.
Für Louises Geständnis ist ein Traum zentral, wie Träume auch den Blick auf das Leben bestimmen. Manchmal bleiben sie nur Träume, die Sehnsüchten Konturen verleihen, manchmal aber konkretisieren sie sich auf unschöne Weise im Alltag. Die Frage, um die es im Roman geht: "Wie kriegt man einen Menschen um Gottes willen so weit, einen Mord zu bekennen, den er nicht begangen hat?", hängt eng mit diesem Traum zusammen.
De Moor erzählt mitunter, als ginge es um ein Märchen. "Es war einmal...": Statt eines Vaters, der sieben Söhne hatte und immer noch kein Töchterchen, hatte De Moors Märchenvater zu seinem Kummer keine Tochter, dafür aber drei Söhne. Der jüngste Sohn war Rinus, und er brachte in seiner Jugend eine Prinzessin mit zu sich nach Hause. Und endlich hatte der Vater auch eine Tochter. Eine Tochter, die auch Rinus' Brüdern zu sexueller Freude verholfen hat. De Moor zeigt, wie Märchensprache phantasiearmen Alltag besonders werden lässt - zumindest in Momenten. Ist Rinus die Figur, mit der die Erzählung beginnt, so liegt eine spezifische Form von Schlusswort bei seinem Hund Sjaak.
Der Roman wird dominiert durch seine intelligente Konstruktion und seine schöne Erzählweise. Es gefällt, beim Lesen die Regeln, nach denen die Erzählung konstruiert ist, offenzulegen.
Margriet de Moor, Hanser
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