Krumme Type, krumme Type
- Pulp Master
- Erschienen: Juli 2018
- 2
- New York, Garden City: William Morrow, 2010, Titel: 'Crooked letter, crooked letter', Seiten: 274, Originalsprache
- Berlin: Pulp Master, 2018, Seiten: 350, Übersetzt: Nikolaus Stingl
Walk a crooked mile In my shoes, babe*
Mit „Krumme Type, krumme Type“ ist jenes Buch auf Deutsch erschienen, das demnächst in Baden Württemberg zur Oberstufen-Lektüre im Englischunterricht gehören wird. Kurz nach seinem Erscheinen belegte Tom Franklins Roman zweimal den Spitzenplatz der Krimibestenliste. Verdient.
„Krumme Type, krumme Type“ besitzt nicht die rohe archaische und apokalyptische Kraft von „Smonk“ (welches auch keine Schulbehörde durchwinken würde), seine Meriten liegen woanders. In der ausgefeilten Figurenzeichnung, der thematischen Vielfalt und Tiefe sowie einer Poesie von immenser Kraft, die nicht in Selbstgefälligkeit erstarrt.
Zwischen Verschwinden und Auslöschung
Die 19-jährige Tina Rutherford wird vermisst. Der Entführung verdächtigt ist der 41-jährige Larry Ott, der wie ein Einsiedler in der Nähe von Chabot, Mississippi lebt. Er betreibt dort eine Werkstatt, in die sich kaum jemand verirrt. Hauptsächlich bestreitet Ott sein Auskommen, indem er Teile seines riesigen Landbesitzes veräußert. Er ist ein stigmatisierter Außenseiter, der inmitten Massen von Büchern und Comics ein einsames Leben führt. Zum Aussätzigen gestempelt wurde er 25 Jahre zuvor, als ebenfalls ein junges Mädchen spurlos verschwand.
Larry Ott war der letzte, der mit Cindy Walker zusammen war. Während ihres scheinbaren Dates wollte sie ihren wahren und vor den Eltern geheim gehaltenen Freund treffen und später wieder mit Larry heimfahren. Doch am verabredeten Treffpunkt tauchte Cindy nicht auf. Das behauptet Ott jedenfalls. Doch der geheimnisvolle Liebhaber bleibt ein Phantom und Larry gerät unter Verdacht, Cindy Walker ermordet zu haben. Die Beweislage ist allerdings mangelhaft, sodass Larry nie verurteilt wird. Der Makel aber bleibt.
Ein Vierteljahrhundert später steht Larry Ott wieder im Fokus von Ermittlungen. Ständige Schikanen der örtlichen Gesetzeshüter und Anfeindungen durch die Bevölkerung ist er gewohnt, doch diesmal scheint sich der Volkszorn radikaler zu entladen: Larry wird niedergeschossen und landet schwerverletzt im Krankenhaus.
Ein Freund ist ein Freund ist kein Freund
Der dunkelhäutige Constable Silas Jones, genannt „32“, nach der Rückennummer seines Baseballtrikots, beginnt zu ermitteln. Obwohl er sich bezüglich seines Verhältnisses zu Larry Ott sehr bedeckt hält, kristallisiert sich bald heraus, dass Silas zeitweilig Larrys bester Freund war.
Bis nicht nur Cindy Walkers spurloses Verschwinden die Freundschaft implodieren ließ. Silas kehrt seiner Heimat für gut zwei Jahrzehnte den Rücken zu und lässt Larry im Stich. Aber er kann seiner Vergangenheit nicht entfliehen, dafür reichen die Verstrickungen zu weit und sitzen Schuldgefühle zu tief.
Familie ist der Ort, an dem alles passieren kann
Der Vermisstenfall zu Beginn des Romans führt zu einer vielschichtigen Geschichte, deren Ursprünge lange Jahre zurück liegen. Franklin bewegt sich geschickt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, spielt mit den zahlreichen Facetten selektiver Wahrnehmung, arbeitet mit Bruchstücken und feinen Details, ohne plumpe Schuldzuweisungen und Spannen grobmotorischer Spannungsbögen. Er traut seinen Lesern zu, Zusammenhänge selbst zu erkennen und engmaschig verwobenes zu entwirren.
So wird die Geschichte eines umfassenden Missbrauchs an Cindy Walker nicht plakativ zur Schau gestellt, sondern entlarvt sich in kurzen Gesprächen, Beobachtungen und Handlungen. Franklin ist meisterhaft darin, Charakterzeichnungen nur knapp zu schraffieren und den Figuren trotzdem Tiefe zu verleihen.
„Krumme Type, krumme Type“ erzählt vom Machtfaktor Familie, von Erwartungen, Enttäuschungen, Freundschaft, Liebe und Betrug. Er skizziert alltäglichen Rassismus, Unterdrückung und Zwang durch jene perfide Art, die nicht mit Peitschen, brennenden Kreuzen, Kapuzen und Lynchjustiz in der Nacht daherkommt, sondern durch ihre wie beiläufig wirkende, allgemeine Akzeptanz so erschreckend wirkt. Nicht nur Hautfarbe führt zu Diskriminierung, Andersartigkeit per se ist verdächtig. So blicken die eigenen Eltern mit Unverständnis auf ihren Sohn Larry, den Büchernarren. Seine schüchterne Freundlichkeit wird als Verschlagenheit und Feigheit interpretiert, durch seine Verstrickung ins Verschwinden von Cindy Wallace wird der einsame Intellektuelle endgültig zur persona non grata.
Selbst der ansonsten so tatkräftige Silas Jones tut wenig, seinen ehemaligen Freund zu rehabilitieren. Er lebt lieber mit seinen Schuldgefühlen, und es dauert, bis er sich ihnen stellt, um der möglichen Wahrheitsfindung zu dienen.
John Wayne Gacy beißt
Tom Franklin gelingt mit seinem Roman ein analytisches Gesellschaftsportrait, er verbindet eine eindrückliche Coming Of Age-Geschichte mit düsterem Southern Noir, ohne dass es je aufgesetzt wirkt. Er ist in der Lage, vieles in der Schwebe zu halten, mit ambivalenten Protagonisten zu arbeiten, ohne ins Ungefähre abzugleiten.
Mit Wallace Stringfellow tritt zudem einer jener Psychopathen auf, die ihre Bösartigkeit hinter scheinbar jovialer Freundlichkeit verbergen. Ein Bruder im Geiste von Charles Willefords Frederick J. Frenger, Jr. Kaum anders zu erwarten bei jemand, der seinen Hund rassistisch abrichtet und ihn nach dem Serienkiller im Clownskostüm John Wayne Gacy benennt. Nur zwei von zahlreichen einprägsam gezeichneten Charakteren, die Tom Franklin in „Krumme Type, krumme Type“ auftreten lässt.
Für die Schullektüre dürfte von Relevanz sein, dass sich das Thema Mobbing durch den gesamten Roman zieht. Larry Ott wird schikaniert und ausgegrenzt wegen eines unbewiesenen Verdachts, der sich zum Teil daraus nährt, dass Larry nicht ins normierte Gefüge passt. Er liest zu viel und redet zu wenig, hat kaum Interesse an Sport, ist zu scheu, verträumt und gleichzeitig zu aufmerksam, um nicht verdächtig zu sein.
Die Familie ist kein Hort der ihn auffängt, seine Freundschaft zu Silas zu kompliziert und brüchig, um Bestand zu haben. Darum geht es auch im Zentrum des Romans, die Fragilität des Lebens, die Brüche in Biographien und die kostspieligen Kompromisse, die mancher eingeht, um zu leben, zu überleben.
Ein Roman mit tiefgreifender Wirkung
Trauer und Komik, Spannungssteigerung und Momente des Innehaltens, tiefe Einsichten und beiläufige Begebenheiten – „Krumme Type, krumme Type“ bringt das nahezu spielerisch unter einen Hut. Und ist auch in der deutschen Übersetzung ein sprachlicher Genuss. Alleine die kurze Passage, in der Silas am Krankenbett von Larrys Mutter über das Leben und Sterben mit Demenz resümiert, ist so ungeheuer treffend wie überaus berührend. Besser kann man das kaum in Worte fassen.
* “Walk A Crooked Mile“, Motörhead
Tom Franklin, Pulp Master
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