Verrat
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 2018
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- London: Viking, 2017, Titel: 'A traitor in the family', Seiten: 311, Originalsprache
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2018, Seiten: 336, Übersetzt: Jan Schönherr
Ein IRA-Kämpfer, seine Ehefrau und vielschichtiger Verrat
Ein Setting - so dunkel und trostlos
Schon mit den ersten Sätzen schafft es Nicholas Searle, den Leser hineinzuziehen in die Welt von Francis und Bridget. In "das kalte, immer leicht feuchte Häuschen außerhalb des Dorfes, mitten im Grün der Border Counties". Das Dorf Carrickcloghan war ein typisches kleines irisches Nest mit Pub, Fleischer, Bäcker und Post. Dann begannen "The Troubles", der Irische Bürgerkrieg, und Carrickcloghan starb. In den "Border Counties" zu leben bedeutete Checkpoints, Hubschrauber, Wachtürme und die "Besatzer", die versuchen das Land "auszuhungern".
Dort scheint es keine Freude zu geben, keine Sonne, Wärme, Liebe. Alles Schöne ist ausgelöscht durch die allgegenwärtige Gewalt von Briten und IRA. Die Trostlosigkeit der Situation spiegelt sich in den Menschen wieder, die entweder völlig abgestumpft vor sich hin leben oder als Anhänger der IRA alle Anderen ständig unter Beobachtung haben und selbst unter ständiger Beobachtung stehen. Die Angst, dass eine unbedachte Handlung falsch interpretiert wird, sie zu einem Verhör durch die IRA oder die Briten führt, ist omnipräsent und schwebt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen aller.
"Das wahre Leben ist sinnlos, nichts als Furcht, das ständige Gefühl von allen Seiten belauert zu werden, und schließlich der Tod."
Francis bringt für die IRA Menschen um, scheinbar ohne mit der Wimper zu zucken und ohne Skrupel. Aber, so ist es nicht. Immer öfter wird ihm klar, dass alles Morden nicht zum Erfolg führt und das jeder Anschlag ihn tiefer in den Sumpf von Gewalt und Misstrauen zieht. Doch er ist loyal bis in die Fußspitzen.
Er ging für die IRA ins berüchtigte Maze, nahm dort am "Dirty Protest" teil. Obwohl ihm sein Verstand etwas anderes sagt, lehnt er Spionage für die Briten ab. Dass er nach einem missglückten Anschlag von der Front zum Ausbilder degradiert wird, nimmt er hin. Dass er unter der Fuchtel von IRA-Anführer Gentleman Joe steht, nimmt er hin. Dass seine Ehe nur noch eine Farce ist, nimmt er hin.
Doch als sein kleiner Bruder Liam durch seine Mithilfe von der IRA gefoldert und ermordet wird, bröckelt die Fassade. Er verliert für einen kurzen Moment die Fassung zeigt sein verletztes, verzweifeltes Inneres. Aber die Loyalität siegt, er gibt sich auf und ganz dem Kampf hin, und landet wieder im Knast. Bis er nach seiner Haftentlassung merkt, dass seine Loyalität nicht honoriert wird. Die IRA hat ihn verraten, hat sich längst mit den Briten geeinigt und keine Verwendung mehr für ihn. Im Gegenteil, sie wollen ihn los werden, den Mann, der zu viel weiß und Ärger machen könnte. Sie schieben ihn ab und Bridget gleich mit.
Bridget, die einsam Leidende
Bridget leidet, seit die Troubles ihre Welt sterben ließen und seit Francis ihr Leben dominiert. Für ihre Mutter hat sie ein Studium in Belfast aufgegeben, für Francis ihr ganzes Leben. Sie ist Hausfrau, an das Haus gefesselt. Kocht, putzt und wartet auf ihren Mann, der sie herumkommandiert und dem sie nicht zu widersprechen wagt. Sie weiß, was er tut, obwohl nie auch nur ein Wort darüber verloren wird.
Der "Job" ihres Mannes bringt Anerkennung der IRA-Anhänger, aber gleichzeitig muss sie sich konform verhalten, sonst drohen Konsequenzen. Erst als sie Sarah kennenlernt, scheint ein bisschen Freude zurückzukehren. Aber Sarah ist Agentin der Briten, also der Feind. Trotzdem hält Bridget Kontakt zu ihr und verrät Francis.
Zwei Protagonisten, die ans Herz gehen
Am liebsten würde man Francis und Bridget nehmen und mal so richtig durchschütteln. Beide sind kreuzunglücklich, aber so sehr in ihrer Situation und in ihrer Angst gefangen, dass man sie wohl mehrmals schütteln müsste, um Erfolg zu haben. Lieblosigkeit, Einsamkeit, Furcht sind ihre ständigen Begleiter - und dennoch ist die Lage nicht erdrückend genug, dass sie den angebotenen Ausstieg annehmen. Francis hält seine Loyalität zur IRA und auch die Angst vor ihr zurück.
Und Bridget? Sie verrät Francis um ihn aus der Schusslinie zu bekommen, weil sie seine inneren Nöte ahnt, aber den Absprung schafft auch sie nicht. Die Angst vor der IRA, und vor allem vor dem neuen unbekannten Leben, in dem sie auf sich gestellt sein würde, halten sie zurück. Searle hat die Charaktere von Francis und Bridget präzise gezeichnet - die Gefühlswelt der beiden wird zur Gefühlswelt des Lesers. Man kann sich gut in die einsame, hoffnungslose Frau hinein versetzen, aber auch in den Killer. Die beiden sind so mitleiderregend, dass man nur Sympathie für sie empfinden kann. Ja, auch für Francis, der ein Kind seiner Zeit ist und von dieser erdrückt und verraten wird.
Ein Thriller und doch bittere Realität
Searle hat seine Geschichte in der Zeit um das Freitagsabkommen, welches den Nordirlandkonflikt beendete, angesiedelt. Der Thriller ist fiktiv, aber dennoch real. Das Setting entsteht sofort vor dem Auge des Lesers, mit all seiner Trostlosigkeit und seiner Brutalität. Hat man es oft genug im Fernsehen gesehen, wenn man nur alt genug ist.
Die handelnden Parteien sind so treffend dargestellt, dass sie überaus realistisch sind. Francis und Bridget stehen für die verheizten Leben, die es zu abertausenden in Nordirland gegeben haben muss. Gebraucht und fallen gelassen - verraten, sobald sich die Situation geändert hatte.
Eine vorhersehbare Geschichte, aber dennoch spannend
Die Gedanken, Gefühle und Handlungen von Bridget und Francis bilden in zwei Handlungssträngen das Gerüst für die Geschichte. Obwohl sie eine Ehe führen, leben sie nebeneinander her und haben nur wenige Berührungspunkte. Das globale Geschehen ist vorhersehbar, da es reale Geschichte ist. Und, das Bridget ihren Mann verrät ist spätestens nach der Lektüre des Buchumschlages klar. Doch, wie gehen beide mit ihrer Situation und ihren Gefühlen um?
Das ist das spannende Thema dieses Thrillers. Hier setzt aber auch die Kritik ein. Während Francis Verhalten noch nachvollziehbar ist, wenn er die Anwerbung des britischen Geheimdienstes ablehnt, ist Bridgets Verhalten teilweise unverständlich. Sie will raus aus dem Elend und hätte die Gelegenheit. Sie könnte Francis aus der Schusslinie nehmen, abhauen und dem ganzen traurigen Leben mit einer neuen Identität entfliehen. Aber sie bleibt, mit der Begründung zu viel Angst vor dem neuen Leben und der IRA zu haben. Doch sie ist eine intelligente Frau. Die Furcht vor dem Unbekannten ist unrealitisch und die IRA sitzt ihr während der ganzen Jahre im Nacken und ist eine permanente Bedrohung. Abhauen wäre weniger unangenehm gewesen.
Selbst als alles zusammenbricht und sie das gleiche Leben in einer anderen Stadt führen müssen, bleibt sie. Erst als das Morden wieder droht, zieht sie die Reißleine. Warum so spät? Für weiteren Thrill sorgt auch die ständige Frage "Wem kann man trauen". Bei so viel Misstrauen ist es nicht eindeutig, wer Freund, wer Feind ist. Und so kommt manche Überraschung zu Tage, die man so nicht vorhergesehen hätte.
Geschichte und Psychologie - eine gute Mischung für einen Thriller
"Verrat" ist ein Thriller, der vor allem Leser begeistern dürfte, die Interesse an irischer Geschichte haben. Die "Troubles" prägen bis heute das Leben Nordirlands und werden es mit Sicherheit noch lange tun. Nicholas Searle entführt den Leser mitreißend in diese dunkle Zeit, die ja noch nicht so lange vergangen ist.
Francis und Bridget stehen exemplarisch für das psychologische Desaster einer ganzen Nation, in der "angeblich ganz gewöhnliche Menschen plötzlich zu außergewöhnlichen werden". Searle ist nach "Das alte Böse" wieder ein lesenswerter Thriller gelungen, den man nicht einfach so zwischendurch liest, sondern der lange nachhallt, und der nur aufgrund des unbegreiflichen Verhalten von Bridget Abzüge in der Gradzahl erhält.
Nicholas Searle, Rowohlt
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