64

  • Atrium
  • Erschienen: Januar 2018
  • 8
  • Tokio: Bungei Shunju, 2013, Titel: '64', Originalsprache
  • Zürich: Atrium, 2018, Seiten: 768, Übersetzt: Sabine Roth & Nikolaus Stingl
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Annette Wolter
95°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2018

Die Entdeckung der Langsamkeit - oder das Geheimnis eines ungeklärten Falles?

44 Personen zählt die Aufzählung im Buch und das gesamte Buch erstreckt sich über 760 Seiten. Das ist eine Menge zu lesen. Dazu kommt die Beschäftigung mit einer - für Deutschland - sehr fremden Kultur. Trotz der Herausforderung dieses Buch zu "bezwingen", im Zeitalter von Schnelligkeit, Smartphone und Digitalisierung, ist 64 der Bestseller in Japan.

Hideo Yokoyama, geboren 1957 in Tokio, arbeitete als investigativer Journalist und gilt als der japanische Stieg Larsson. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und schrieb zehn Jahre an 64, wobei er zwischendurch sogar noch einen Schlaganfall erlitt. Der Thriller eroberte Platz 1 der japanischen Bestsellerliste und wurde als bester japanischer Kriminalroman des Jahres 2013 ausgezeichnet.
Die deutsche Ausgabe ist sehr schön gestaltet mit typisch japanischen Kirschblüten. Das mutet ästhetisch und ätherisch an, eher wie das Cover eines Liebesromans, aber der erste Eindruck täuscht.

Spannende Einblicke in eine fremde Welt

Der Pressesprecher Yoshinobu Mikami (er wird im Buch nur mit seinem Nachnamen Mikami angeredet) hat große Probleme. Seine Tochter Ayumi ist verschwunden, einfach von zu Hause abgehauen, weil sie sich so hässlich findet und auch in seiner Ehe mit Minako steht es nicht zum Besten.

Da Ayumi glaubt, ihr Aussehen vom Vater geerbt zu haben und dafür ihre wunderschöne Mutter beneidet und verachtet, schmerzt das sehr. Dazu kommt noch, dass Mikami und seine Frau immer wieder ermordete Mädchen ansehen und feststellen müssen, ob es sich vielleicht um ihre Tochter handelt.

Jedes Mal ist der Schock groß, dann kommt die Erleichterung, wenn es nicht Ayumi ist, gepaart mit dem Gefühl, dass sie Glück hatten, während andere Eltern ihre tote Tochter identifizieren müssen. Sogar in der Pathologie vergleicht er das Aussehen einer hübschen Ermordeten mit Ayumi, was beinah zynisch anmutet.

Mobbing und Frust im Job

Dazu kommt noch der Ärger im Job. Mikami wurde quasi degradiert und musste statt der Position des aktiven Ermittlers den Job des Pressesprechers übernehmen. Nur Frust, Ärger und das Gefühl, dass ihm alle Infos vorenthalten werden und alle anderen einen immensen Wissensvorsprung haben. Wenn eine Besprechung stattfindet, garantiert ohne Mikami. Leicht kafkaesk.
Das Mobbingverhalten ist wie "Gaslighting" (Film mit Ingrid Bergman/Gaslight), wo dem Opfer eine andere Realität vorgespiegelt wird. Das Opfer - hier Mikami - wird langsam verrückt und zweifelt an seinem Realitätssinn.

Ungereimtheiten und falsche Fährten in einem alten Fall

64 ist der Aktenname eines Entführungsfalles von 1989, der nie gelöst worden ist. Damals wurde das siebnjährige Mädchen Shoko, Tochter des Inhabers einer Konservenfabrik, in Tokio entführt. Seltsamerweise spielt dieser Fall plötzlich nach so langer Zeit wieder eine Rolle, weil Kozuka, der Generalinspektor der Nationalen Polizeibehörde, anlässlich des Jahrestages des Verbrechens den Vater von Shoko besuchen will. Doch Amamiya, so der Name des Vaters, lehnt einen Besuch kategorisch ab. Das tut er in aller Höflichkeit, aber auch mit Entschiedenheit.

Es ist total beklemmend, wie zum Beispiel auch die Lösegeldübergabe im alten Fall 64 über die Bühne ging. Die Eltern und Polizisten, die an der Aufklärung dieses Falles beteiligt waren, wussten sicher instinktiv, dass das Mädchen tot war. Trotz aller operativer Hektik.

Mikami wird beauftragt, den Mann umzustimmen, weil man Angst hat, dem Generalinspektor die Situation so zu schildern, wie sie ist. Also stürzt sich Mikami in den alten Fall und stößt ziemlich schnell auf Ungereimtheiten. Es gibt eine langsame Zuspitzung des Plots und am Schluss nochmal eine Entführung.

Wenn die Handlung in Schwung kommt, taucht der Leser richtig ein

Dieses Buch ist definitiv nichts für Menschen, die schnelle Pageturner lieben. Ich habe mich mit den ersten 200 Seiten schwer getan, zwischenzeitlich gedacht, warum diese Szene dermaßen detailliert beschrieben werden muss. Mein Eindruck war wirklich zwiespältig; eigentlich liebe ich nämlich Krimis, die in Japan spielen.

Dann kam die Handlung für mich aber Schwung, und ich konnte richtig eintauchen. Dann eine Wahnsinns-Entschädigung. Der Leser muss sich immer mal wieder mit den Namen der Protagonisten auseinander setzen und zurückblättern. Dann wieder mit japanischen Spitzfindigkeiten, wie einer neuen Ära, die durch den Tod eines Kaisers - hier Kaiser Hirohito 1989 - endet und in eine neue Epoche mündet.

Den japanischen Alltags hat Yokomaya akribisch geschildert, der Leser bekommt einen guten und teilweise wirklich schockierenden Einblick. Wichtiger finde ich aber, wie die Hilflosigkeit und Ohnmacht beschrieben wird, mit der Mikami sich auseinandersetzen muss, und wie er als Japaner damit umgeht. Es kommt mir teilweise vor, als spiele der Krimi in einer fiesen Diktatur.

Teilweise ist Mikami voller Hass und Verachtung, verliert aber grundsätzlich in der Öffentlichkeit nie sein Gesicht. Lediglich als er richtig viel über das Geschehen vor 14 Jahren herausfindet, ist er dermaßen empört, dass er sich vergisst und die Etikette vernachlässigt.

Als ich mich richtig eingelesen hatte, habe ich mit mit Mikami und seiner Familie mitgefiebert und war dann direkt enttäuscht, als das Buch zu Ende war.

64

Hideo Yokoyama, Atrium

64

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