Das Mädchen am See
- LYX
- Erschienen: Januar 2017
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- New York: Kensington, 2016, Titel: 'Summit Lake', Seiten: 294, Originalsprache
- Köln: LYX, 2017, Seiten: 374, Übersetzt: Antje Görnig
Wenn die Presse den Mörder sucht, schreibt die Polizei dann die Zeitung?
Vorweg: Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, aus welchem Grund eine Reporterin, die über einen Mordfall und dessen Untersuchung berichtet, es als ihre ureigene persönliche Aufgabe ansieht, dieses Verbrechen selbst aufzuklären - aber sei es drum. Die Reporterin Kelsey Castle, die nach einer längeren beruflichen Auszeit wieder in ihrem Metier Fuß fassen möchte, wird also in den beschaulichen Urlaubsort Summit Lake geschickt, in dem die Studentin Becca Eckersley ermordet wurde.
Castle erfährt recht schnell, dass der Fall der örtlichen entzogen und der staatlichen Polizei übertragen wurde. Offensichtlich hatte hier Beccas einflussreiche Familie die Fäden gezogen und ebenso offensichtlich hofft die Familie auf eine "diskrete" Untersuchung. Für die Arbeit der Reporterin hat dieses Vorgehen aber auch ihr Gutes, sind die örtlichen Polizisten doch - vermutlich nicht zu Unrecht - ungehalten, und zeigen sich dabei gerne bereit, den einen oder anderen Verstoß gegen den Datenschutz zu begehen, um ihr zu helfen.
Interessant beschriebene Handlungssprünge
Charlie Donlea beschreibt in seinem Erstlingswerk "Das Mädchen am See" auf der einen Seite die Vorgeschichte der Ermordung von Becca Eckersley und in einem parallel dazu angesiedelten Strang die Untersuchung nach ihrem Tod. Der Leser lernt Becca rund 14 Monate vor ihrem Tod als fröhliche High-School-Absolventin kennen, der nach ihrem Schulabschluss die Welt zu Füßen liegen wird. Was also konnte dazu führen, dass dieses heitere Geschöpf so brutal hingemetzelt wurde?
Als zweiten Erzählstrang führt Donlea die Untersuchungen der Reporterin Kelsey Castle ein. Sie ist selbst Opfer einer Vergewaltigung geworden und sieht sich - vielleicht auch aus diesem Grund - als Anwältin des Opfers. Diese beiden Handlungen laufen zwangsläufig aufeinander zu, Beccas Geschichte nähert sich in rasantem Tempo dem Abend ihres Todes und so sieht sich der Leser durch diese Konstruktion als denjenigen, der mehr weiß als die Ermittler.
Stirbt die Professionalität zuerst?
Dennoch weist das Buch trotz seiner de facto spannend erzählten Geschichte einige Mankos auf. So ist die Kooperation der Reporterin mit den ermittelnden Polizisten eine sehr fragliche, erhält sie doch von einem aus dem Fall abgezogenen Ermittler nicht nur ein paar besondere Einblicke sondern sogar die Untersuchungsakten. Selbst wenn er sehr verärgert ist, gibt ein Staatsdiener vertrauliches Material an eine Journalistin weiter, von der er weiß, dass sie im Zweifel dieses Material veröffentlichen wird? Diese Frage ist wohl kaum zu bejahen.
Eine ähnliche Frage muss auch zu dem charmanten Dr. Ambrose gestellt werden, dem ebenfalls die ärztliche Schweigepflicht und seine Karriere gepflegt am Popo vorbei gehen, solange er nur der Reporterin unter die Arme greifen kann. Auch diese Haltung entbehrt jeder Professionalität und ist doch schon ein wenig weit hergeholt.
Fraglich auch die Einstellung anderer Personen, die aus Gründen einer eigenartigen Pietät nicht bereit sind, wichtige Informationen zum Fall an die Polizei weiter zu reichen - oder ungünstigstenfalls erst gar nicht auf die Idee kommen. Hier muss der Eindruck entstehen, dass Donlea diese Verzögerung zugunsten der weiteren Handlung einbaute. Im Lichte der Realität betrachtet wäre eine solche Haltung möglicherweise schon eine Behinderung der Justiz.
Abschließend muss der Leser bei der Auflösung des Falles erfahren, dass er offensichtlich doch nicht der Allwissende war, denn zum Schluss wird klar, dass er über ein paar wichtige Fakten doch immens im Dunkeln gelassen wurde. Als schriftstellerisches Stilmittel mag das grundsätzlich legitim sein, doch bleibt immer noch die Frage, warum es der staatlichen Polizei nicht im Handumdrehen gelingen musste, den Täter zu ermitteln - hätte sie denn ordentlich recherchiert.
Die Staatspolizei zeigt vielmehr erst so richtig was sie kann, als sie sich auf die Suche nach der widerborstigen Reporterin macht und dabei einen Wind veranstaltet, der selbst in den 70er Jahren jeder hitzigen deutschen Terroristen-Jagd zur Ehre gereicht hätte. Hier fragt sich der Leser auch, in welchem Maßstab offensichtlich kleine Vergehen geahndet wogegen große offensichtlich links liegen gelassen werden.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass "Das Mädchen am See" genau wie der beschriebene Ort "Summit Lake" sicherlich ein unterhaltsames Urlaubserlebnis bieten können. Dennoch fühlt man sich nach der Lektüre an das Verspeisen von Popcorn erinnert. Wer sich davon viel in den Mund stopft, hat zunächst den Mund voll und stellt dann fest, dass er quasi auf Nichts kaut. Dennoch hat auch Popcorn seine Berechtigung.
Charlie Donlea, LYX
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