Unter der Mitternachtssonne
- Tropen
- Erschienen: Januar 2018
- 5
- Tokio: Shueisha, 1999, Titel: 'Byakuyako', Seiten: 506, Originalsprache
- Stuttgart: Tropen, 2018, Seiten: 720, Übersetzt: Ursula Gräfe
Eine sehr lange - aber spannende - Geschichte aus Japan
Ein gewichtiges Buch
Was an "Unter der Mitternachtssonne" als erstes auffällt, ist sein Umfang und sein Gewicht. 720 Seiten Papier sind schon ein ganz schöner Stapel, aber Keigo Higashino weiß sie mit einer spannenden Geschichte zu füllen. Der Mord an Pfandleiher Yosuke Kirihara ist der Auslöser für einen Handlungsstrang, der sich in einzelnen Episoden über nahezu 20 Jahre hinweg zieht.
Die separaten Kapitel sind wie in sich abgeschlossene Kurzgeschichten angelegt und dabei ist nicht immer gleich ersichtlich, welche Bedeutung jede Episode für das Gesamtgeschehen und die Aufklärung des Mordes hat. Erst nach und nach verbinden sich die Geschichten zu einem Strang, in dem sich die Verflechtungen der einzelnen Personen zeigen - und der am Ende das Motiv für den Mord liefert.
Zwei Protagonisten, die zum Fürchten sind
Nach Schilderung der erfolglosen Ermittlungen im Jahr 1973 konzentriert sich der Rest des Geschehens auf Yukiho und Ryo. Yukiho ist die elfjährige Tochter der Hauptverdächtigen, Ryo der gleichaltrige Sohn des Ermordeten. Sind sie zu Beginn der Geschichte lediglich Kinder, die sich zwar etwas merkwürdig verhalten, aber ansonsten eher Randfiguren bleiben, wird dem Leser sehr schnell klar, dass die beiden die Täter sein müssen.
Rücksichtslos räumen sie alle aus dem Weg, die ihnen Probleme bereiten könnten, oder die sie für ihre Zwecke nicht mehr brauchen. Dabei geht es nicht nur um den Mord, sondern auch um die Lebensplanung der beiden. Yukiho, eine ausgesprochene Schönheit, lebt ihren Traum von der selbständigen, erfolgreichen Businessfrau. Dabei nutzt sie Jeden und jede Gelegenheit vorwärts zu kommen. Wer ausgedient hat, wird entsorgt.
Ryo ist genauso geschäftstüchtig. In den Anfängen des Computerzeitalters entwickelt er großes Geschick als Hacker und Fälscher von gutgehenden Computerspielen. Auch sein Weg ist mit Leichen gepflastert. Mit jedem neuen Kapitel wird der gefühllose Umgang der beiden mit ihren Mitmenschen deutlicher. Immer mehr erkennt der Leser ihre wahren Gesichter, aber das Motiv bleibt weiterhin im Dunklen.
Obwohl beide nie öffentlich zusammen auftreten ist klar, dass sie in einer Beziehung zueinander stehen, sie Grundel und Krebs sind, sie "eine für beide profitable Zusammenarbeit, so was nennt man Symbiose" haben.
Sehr gut konstruierter Plot in einer zu langen Geschichte
Was Keigo Higashino hier abliefert ist wirklich genial konstruiert. Der eigentliche Mord ist nur der Auslöser für einen Plot, der dem Leser wohl dosiert und häppchenweise Informationen über die beiden Protagonisten preisgibt, die mit jedem Kapitel mehr ihre wahren Charaktere offenbaren. Schnell ist klar, die waren es, aber erst nach und nach kommt heraus, warum sie so handeln, wie sie es tun. Und wirklich erst ganz am Schluss liegt dann das Motiv auf dem Tisch.
Dabei werden alle vorkommenden Personen emotionslos und distanziert beschrieben. Damit wird dem Leser die Möglichkeit einer Identifikation mit den Handelnden genommen, was aber der Geschichte keine Abbruch tut. Im Gegenteil, als neutral Außenstehender ist man mit jedem neuen Kapitel abgestoßener von den beiden Protagonisten, aber gleichzeitig auch faszinierter von deren Rücksichtslosigkeit.
Eine ungewollte Komik kommt auf, wenn von der Hackerszene oder den Problemen aus der Computer-Frühgeschichte der 80-Jahre berichtet wird, oder von der Scheu, mit einer Karte am Automaten Geld abzuheben. Es ist also eine sehr spannende Geschichte, aber auch eben eine sehr lange. Higashino erzählt extrem ausführlich, und so wird jedes Kapitel zu einer eigenen kleinen kurzen Erzählung, in die der Leser eintaucht, sie isoliert sieht, und die ihn teilweise aus dem großen Zusammenhang hinaus katapultiert.
Erst am Ende einer jeden Episode merkt man, dass das Buch aus mehr besteht. Die Detailversessenheit, mit der Higashino jede Handlung und jeden Dialog schildert, lässt die mitreißende Geschichte teilweise langatmig werden, und kann so manchen Leser an den Rand des Aufgebens bringen. Etwas weniger wäre hier mehr gewesen.
Von den Schwierigkeiten, ein japanisches Buch zu lesen
Die eigentliche Herausforderung von "Unter der Mitternachtssonne" ist jedoch nicht die komplexe Handlung oder die 720 Seiten lange Geschichte, sondern schlichtweg die Tatsache, das es in Japan spielt. Zwar lernt man, dass japanisches Essen aus mehr als Sushi besteht, Tantami Schlafmatten sind und Schiebewände auch heute noch zur Architektur eines japanischen Hauses gehören können, aber wirklich knifflig sind die Namen.
Ihr Klang und auch ihre Schreibweise sind ungewohnt, teilweise zum Verwechseln ähnlich, und manchmal weiß man nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, bis weitere Informationen kommen. Der Lesefluss kann dadurch stark beeinträchtigt werden, und manchmal erkennt man eine Person erst nach einiger Zeit wieder. Aber, dass sollte niemanden davon abhalten das Buch zu lesen, denn der Verlag hat diese Schwierigkeit wohl schon voraus gesehen und eine Liste der wichtigsten Namen mit kurzer Erklärung zur Person dem Buch beigelegt. Wer diese Liste immer neben sich hat, schafft es auch als Japan-unkundiger Leser klar zu kommen.
Durchhalten - der Kommissar hat ja auch 20 Jahre gebraucht
Wer sich an diesen dicken Schinken wagt, sich den Schwierigkeiten der japanischen Namen stellt und auch vor der detailstrotzenden Schreibweise nicht kapituliert, hat mit Keigo Higashinos einen Autor gefunden, der es schafft, den Leser mit einem genialen Plot in den Bann zu ziehen. "Unter der Mitternachtssonne" ist ein spannendes Buch für einen geduldigen Thriller-Liebhaber, der entweder viel Zeit hat - oder sich viel Zeit nimmt - um in einen eine fremde Kultur und in menschliche Abgründe abzutauchen, aus denen es erst nach 720 Seiten ein befriedigendes Entkommen gibt.
Keigo Higashino, Tropen
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