Ich beobachte dich
- Scherz
- Erschienen: April 2018
- 5
- New York: St. Martin's Press, 2017, Titel: 'Never let you go', Originalsprache
- Frankfurt am Main: Scherz, 2018, Seiten: 480, Übersetzt: Maria Poets
Im Strudel der Paranoia?
Andrew ist gutaussehend, charmant und hat Geld. Kein Wunder, dass sich Lindsey, die Protagonistin in Chevy Stevens neuem Roman „Ich beobachte dich“, in ihn verliebt. Nach der Heirat zeigt Andrew aber immer öfter sein anderes Gesicht: Er ist extrem eifersüchtig, kontrollierend und besitzergreifend. Die Spirale des Missbrauchs beginnt mit subtilen Erpressungen und Einschüchterungen und steigert sich zu Vergewaltigung, Schlägen und Todesdrohungen.
„Dein Dad hat es geliebt, mir Angst einzujagen. Es ging ihm nicht darum, mich zu verletzen. Es versetzt ihm einen Kick, wenn er mir Angst machen kann. Das gibt ihm ein Gefühl von Macht.“
Beispielhaft schildert zeigt die Autorin in „Ich beobachte dich“, wie Gewalt in der Ehe funktioniert und wie sich der Missbrauch in die nächste Generation fortsetzt, wenn man sich nicht rechtzeitig daraus befreit. Chevy Stevens recherchiert für ihre Bücher immer sehr intensiv und entwirft dann Charaktere, die zumindest in den Hauptrollen sehr überzeugend und authentisch sind. In ihrem neuen Buch hat Stevens auch auf ihre eigenen Erfahrungen mit einem trunksüchtigen und gewalttätigen Vater einfließen lassen.
Lindsey ist heimlich aus ihrer Ehehölle geflüchtet und hat sich ein neues Leben aufgebaut. In ständiger Angst davor, von ihrem Ex-Mann aufgespürt zu werden, nimmt sie ihre Umwelt und ihre Mitmenschen äußerst sensibel wahr. Es sind kleinste Abweichungen in der gewohnten Ordnung, die sie misstrauisch machen und zu der Überzeugung kommen lassen, dass Andrew wieder da ist und sie stalkt. Für Außenstehende - und selbst für ihre Tochter - wirkt Lindsey leicht paranoid. Aber immer mehr überträgt sich die Paranoia auch auf den Leser, bis schließlich fast jeder Mann in Lindseys Umgebung verdächtig und seltsam erscheint.
Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt
Die Verunsicherung des Lesers erreicht Stevens geschickt dadurch, dass sie die Geschichte aus zwei Perspektiven erzählt: aus der von Lindsey und aus der ihrer Tochter Sophie. Beide nehmen Menschen und Situationen aufgrund ihrer Erfahrungen sehr unterschiedlich wahr. Während Lindsey das Verhalten von Männern schnell als aufdringlich und übergriffig erlebt und misstrauisch wird, ist Sophie vertrauensvoll und fühlt sich durch Aufmerksamkeiten eher geschmeichelt als belästigt. Sie möchte den Beteuerungen ihres Vaters, dass er sich geändert hat, gerne glauben und gerät dadurch in einen nachvollziehbaren Loyalitätskonflikt zwischen ihren Eltern.
Die Geschichte wird nicht nur aus zwei Perspektiven, sondern auch auf zwei Zeitebenen erzählt. Im ersten Teil des Buches nehmen die Rückblenden einen ebenso großen Teil ein wie das Geschehen in der Gegenwart. Wir erfahren aus Lindseys Perspektive, wie sie Andrew kennenlernt und wie die Gewalt und Angst in der Ehe immer mehr zunehmen, bis sie mit ihrer kleinen Tochter dank eines raffinierten Plans fliehen kann.
Der Mittelteil nimmt sich viel Zeit, die Paranoia zu schüren. Die Handlung spielt in der Gegenwart und wird abwechselnd von Lindsey und Sophie erzählt. Lindseys Gefühl, gestalkt zu werden, bestätigt sich, aber die Sicherheit, dass Andrew der Schuldige ist, gerät ins Wanken. Immer mehr Personen erscheinen verdächtig. Im dritten Teil nimmt das Erzähltempo wieder an Fahrt auf und steuert mit einer überraschenden Enthüllung auf ein dramatisches und spannendes Finale zu.
Fazit:
Für mich ist „Ich beobachte dich“ das beste Buch von Chevy Stevens seit ihrem Debüt „Still Missing“. Sie legt geschickt falsche Spuren, überrascht mit unerwarteten Wendungen und überzeugt mit psychologisch ausgefeilten Charakteren. Allerdings ist das Ende, ebenso wie bei ihrem ersten Buch, etwas zu sehr auf den Überraschungseffekt hin konstruiert. Ansonsten ist es ein fast perfekter Psychothriller. Das Thema Stalking scheint Stevens nicht loszulassen, auch ihr nächster Thriller wird davon handeln. Allerdings ist diesmal nicht ein Mann der Täter, sondern eine Frau. Ich bin gespannt, wie sie dem Thema nach diesem Buch noch neue Aspekte abgewinnen will. Lassen wir uns überraschen.
Chevy Stevens, Scherz
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