Das Wüten der ganzen Welt
- Arche
- Erschienen: Januar 1997
- 30
- Amsterdam: De Arbeiderspers, 1993, Titel: 'Het woeden der gehele wereld', Seiten: 282, Originalsprache
- Zürich; Hamburg: Arche, 1997, Seiten: 410, Übersetzt: Marianne Holberg
- München; Zürich: Piper, 1999, Seiten: 410
- München; Zürich: Piper, 2001, Seiten: 410
- München; Zürich: Piper, 2005, Seiten: 410
- München; Zürich: Piper, 2011, Seiten: 479
Ein ganzes Jahr lang lag dieses Buch bei mir zuhause, ohne dass ich die geringste Lust verspürte, es zu lesen. War es der Klappentext, der mich so wenig ansprach? Ein Krimi wurde mir versprochen, doch die Geschichte klang so ganz anders:
Alexander Goudveyl ist der Sohn eines Lumpenhändlers. Seine Eltern sind von Rotterdam in eine Kleinstadt gezogen und haben das Geschäft einer deportierten jüdischen Familie übernommen. Diese Tatsache und die extreme Sparsamkeit seiner Eltern, die sich darin äußert, dass seine Kleidung aus den Lumpensammlungen stammt, machen den Jungen zum Außenseiter. In der Lagerhalle des Geschäftes findet er ein Klavier und ein deutsches Lehrwerk, mit Hilfe dessen er sich selbst das Spielen beibringt. Sein Talent wird in geregeltere Bahnen gelenkt, als die englische Lehrerin Alice kennenlernt, bei der er "richtigen" Klavierunterricht nimmt.
Während einer Christianisierungskampagne der verschiedenen Kirchen im Ort begleitet Alexander die missionarischen Kleinbürger auf dem Klavier, als hinter seinem Rücken der Polizist Vroombout erschossen wird. Er sieht den vermeintlichen Mörder nur einen Augenblick und fühlt sich durch diesen bedroht - auch später. Die Frage nach der Identität des Mörders lässt in nicht mehr los. Es dauert 30 Jahre, bis Alexander die Puzzleteilchen zusammensetzen kann...
Als erstes möchte ich mich der Frage zuwenden, ob es sich hier wirklich um einen Krimi handelt. Nun, es ist kein Krimi und doch ist es einer. Das Wüten der ganzen Welt ist erst das zweite Buch, von dem ich das behaupten kann. Es ist zum einen ein Buch über die Musik. Mit dem jungen Alexander lernen wir Bach, Mozart, Brahms und die anderen berühmten Komponisten kennen. So plastisch, dass man die Musik zu hören meint, ist die Beschreibung für mich zwar nicht, aber ich spüre deutlich, dass der Autor klassische Musik liebt. Zum zweiten ist es ein Buch über die Entwicklung Alexanders in der Nachkriegszeit und die damit einhergehenden Probleme. In Ich-Form erzählt nehmen an seinem Leben und seinen Problemen teil: dass seine Eltern für Nazi-Kollaborateure gehalten werden und die Judenverfolgung sind dabei ein zentrales Thema, das gleich zu Beginn aufgegriffen wird. Dass der Mord am Polizisten mit der im Prolog geschilderten missglückten Flucht einiger Menschen im Jahre 1944 zusammenhängt, das scheint von Anfang an klar zu sein. Und zum dritten ist es doch ein Krimi, denn die Gedanken Alexanders drehen sich nahezu fortwährend um die Identität des Mörders. Immer wieder kann er ein Stückchen zur Geschichte hinzufügen, durch die Klavierlehrerin, durch den Apotheker des Ortes und durch die Tochter seines Pharmazie-Professors.
Ich halte die Geschichte für ungemein spannend, wobei ich zugeben muss, dass ich am Anfang nicht nur keine Lust hatte, mit dem Lesen zu beginnen, sondern dass die ersten Seiten mich sehr verwirrt haben. Ich musste mich regelrecht einlesen und kam erst später in Schwung. Doch dann war ich gefesselt, gespannt und fieberte mit, obwohl es im eigentlichen Sinn nichts zu fiebern gibt. Gemächlich geht es zu und das zu Beginn auch noch in einem gewöhnungsbedürftigen Stil mit vielen niederländischen Vokabeln und Beschreibungen, die im ersten Moment so überflüssig erscheinen - und es auch sind, aber den Charakter des Buches so prägen, dass man nicht auf sie verzichten möchte.
Als einzigen negativen Aspekt neben dem schweren Anfang möchte ich die Personenbeschreibungen anführen. Die Eltern kann ich mir zum Beispiel gar nicht gut vorstellen, obwohl so viele Details beschrieben werden. Vielleicht bleiben viele Personen so blass, weil ihre Namen zunächst gar nicht oder sehr selten genannt werden, es kann aber auch sein, dass Alexander als Erzähler nicht mehr von den Menschen wahrnimmt, schon gar nicht als Kind.
Im Klappentext steht, dass das Buch eine überraschende Wendung nimmt. Ich fand die Wendung gar nicht überraschend. Es hat zwar sehr lange gedauert, bis man klar sieht, aber der Autor führt den Leser auf einem geradlinigen Weg, ohne Nebenhandlungen, ohne falsche Fährten, schlüssig bis zum Ende, was man eher selten findet. Zu kurz oder zu lang? Genau richtig für meinen Geschmack, der Autor hätte es nicht besser treffen können. Jede Seite mehr wäre zuviel, um jede Seite weniger wäre es schade.
Das Wüten der ganzen Welt kann ich reinen Gewissens Leuten empfehlen, die nichts für Krimis übrig haben. Das Buch wird jedoch auch dem passionierten Krimileser Freude bereiten, wenn er nicht nur 08/15-Kost verschlingt. Und es wird die Leser dennoch in zwei Lager spalten. Wichtig ist nur, dass man ohne Vorurteile an die Lektüre herangeht, am besten ist es wohl, keine Rezensionen darüber zu lesen...
Maarten 't Hart, Arche
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