München
- Heyne
- Erschienen: Januar 2017
- 3
- München: Heyne, 2017, Seiten: 400, Übersetzt: Wolfgang Müller
Papier ist geduldig, Politik ist schmutzig
Im September des Jahres 1938 sitzt Adolf Hitler als Führer des Deutschen Reiches fest im Sattel. Innenpolitisch hat er seine Gegner ausgeschaltet, nun will er seinen Plan vom Lebensraum im Osten verwirklichen. Bisher konnte Hitler das Nazi-Reich vergrößern, ohne gewaltsame Konflikte zu provozieren. Obwohl Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg nur maßvoll aufrüsten dürfte und beachtliche territoriale Verluste akzeptieren musste, schrecken die Siegermächte vor einer Konfrontation zurück. In Frankreich und England ist man sich hinter den politischen Kulissen der Tatsache bewusst, dass Hitler nach einem Vorwand zum Losschlagen sucht.
Nun meint er ihn gefunden zu haben und erhebt Anspruch auf jene sudetendeutschen Gebiete, die 1918 der neu entstandenen Tschechoslowakei eingegliedert wurden. Als England und Frankreich bereit sind, auch diese Forderung über die Köpfe der Tschechen hinweg zu akzeptieren, legt der Führer nach: Er stellt ein Ultimatum für die Räumung der genannten Gebiete, das lächerlich kurz ist.
Premierminister Chamberlain macht sich auf den Weg nach München, wo er sich mit seinem französischen Amtskollegen Daladier, dem widerstrebenden Hitler und dessen Verbündeten Mussolini treffen und einen Kompromiss aushandeln will. Hitler will den Krieg und versucht alles, um dieses Treffen zu hintertreiben, das er aber nicht absagen kann, ohne vor dem Rest der Welt sein Gesicht zu verlieren.
Jenseits der offiziellen Diplomatie versuchen die Parteien sowohl mit legalen Mitteln als auch mit schmutzigen Tricks die Gegenseite zu überlisten. Auf deutscher Seite herrscht durchaus keine Einigkeit. Zu einer kleinen Gruppe von Widerständlern gehört Paul von Hartmann, der im Auswärtigen Amt arbeitet. Als Privatsekretär begleitet Hugh Legat den Premierminister. Er und von Hartmann waren einst Freunde, bevor sich ihre Wege trennten. Der Deutsche sieht in Legat eine Chance, die Briten von Hitlers wahren Absichten in Kenntnis zu setzen - ein gefährlicher Plan, denn die SS ist überaus misstrauisch ...
Krieg der Diplomaten
Blut ist bekanntlich dicker als Wasser, aber in Sachen Gerinnung liegt zwischen beiden die Tinte. Als Flüssigkeit wird sie in der Weltgeschichte schnell unterschätzt. Dabei kommt sie seit vielen Jahrhunderten hektoliterweise zum Einsatz, wenn konkurrierende Staaten Verträge schreiben und unterzeichnen.
Wenn der dafür verwendeten Tinte wenig Bedeutung beigemessen wird, liegt dies daran, dass sie oft nicht einmal getrocknet ist, bevor der entsprechende Vertrag gebrochen wurde. Dann sprechen die Waffen, wie es beschönigend heißt. Selbstverständlich haften die Zahlen derjenigen, die nach diesem Gespräch tot auf dem Schlachtfeld bleiben, besser im Gedächtnis als die Erinnerung an nutzlos beschriebenes Papier.
Nichtsdestotrotz ist die Diplomatie ein durchaus probater Versuch, Konflikte zwischen Staaten einzudämmen, bevor es zum Schlachten kommt. Seit es aus der Mode gekommen ist, Könige stellvertretend für ihr Land kämpfen zu lassen - der Überlebend hatte gleichzeitig den Krieg gewonnen -, ist sie die beste Alternative. In der Regel bleiben Diplomaten diskret. Wie Robert Harris uns zeigt, ist dies auch deshalb ratsam, weil hinter den Kulissen gemauschelt und geschachert wird wie auf keinem orientalischen Markt. Die mit Feder und Tinte ausgetragenen Gefechte sind auf ihre Art ebenso erbittert wie der offene Krieg.
Die Welt am Abgrund
In einem Nachwort zu seinem Roman erzählt Autor Harris von einer seit Jahrzehnten währenden Faszination, die um das Münchner Abkommen vom September 1938 kreist. Die meisten Leser mag dies erstaunen, denn hier wurde doch nur diskutiert und schließlich ein Vertrag unterzeichnet, der kaum ein Jahr später Makulatur war: Was Chamberlain Hitler unter größten Mühen abgerungen hatte, hielt diesen keineswegs dauerhaft davon ab, den Zweiten Weltkrieg vom Zaun zu brechen.
Das hatte er eigentlich schon 1938 vor, obwohl ihn zu diesem Zeitpunkt selbst seine Nazi-Spießgesellen warnten: Deutschland rüstete zwar mit Höchstgeschwindigkeit auf, war seinen potenziellen Gegnern jedoch noch nicht gewachsen. Hitler, der sich für einen begnadeten Militärstrategen hielt, bezweifelte das in seiner Ungeduld. Wäre ihm Chamberlain nicht so elegant in die Parade gefahren - dies jedenfalls in der Interpretation von Robert Harris -, hätte er wohl trotzdem losgeschlagen.
Um München in seiner eigentlichen Tragweite zu verstehen, sollte man die unmittelbare Nachgeschichte ausblenden und sich auf die historische Gegenwart des Geschehens konzentrieren. Harris gelingt die Beschreibung einer Welt, die - außer Hitler - verzweifelt einen neuen Krieg vermeiden will. Aus dem Ersten Weltkrieg hatte man gelernt, dass Bündnisse Land nach Land in einen Konflikt reißen konnten, bis dieser schließlich global wütete. Gerade in England hatten die enormen Menschenverluste, die zudem primär die jüngeren Generationen trafen, für ein Trauma gesorgt. Nie wieder Krieg, lautete deshalb die Devise, der sich auch Chamberlain verschrieb und deshalb Gegenwind und Demütigungen geduldig ertrug, solange er einen neuen Krieg vermeiden oder wenigstens aufschieben konnte: Der Premierminister war Realist und machte sich keine Illusionen über den Bestand des Münchner Abkommens.
Tarnen und täuschen
München lautet der Titel dieses Romans, obwohl die Stadt höchstens eine Nebenrolle spielt. Hitlers München wäre der treffendere Titel, denn die Ereignisse spielen sich an jenen Stätten ab, wo die Nazis Gäste empfangen, um sie zu beeindrucken oder besser: einzuschüchtern. Harris verwendet viele Zeilen auf die Schilderung der monumentalen, brutalen Nazi-Architektur, die folgsamen Volksgenossen Stolz und Respekt und eventuellen Gegnern Angst einflößen soll. Gigantische Bauten, Räume und Flure, in denen die Insassen sich verlieren, endlos lange Hakenkreuz-Fahnen, Aufmärsche, martialische Musik, propagandagestützter Führer-Kult: Schon dieses übersteigerte Selbstverständnis weist auf die Vergeblichkeit des Abkommens hin.
Laut Harris sind sich die Beteiligten im Klaren, dass dieses Treffen eine Farce ist und höchstens einen Aufschub darstellt, der den Briten und Franzosen, allerdings auch den Nazis, die Chance gibt, für den unvermeidlichen Krieg aufzurüsten. Chamberlain wird als Friedenstaube beschrieben, der Hitler den Olivenzweig quasi aufzwingt. Das ist eher Interpretation als Real-Historie, was uns abermals daran erinnert, dass München ein Roman ist. Wenn Harris hier Zeitgenossen wie Chamberlain, Lord Halifax, Hitler, Mussolini usw. auftreten lässt und diese sehr authentisch wirken, liegt dies in erster Linie am Talent eines Schriftstellers, der sie ansonsten jedoch wie Marionetten an seinen Schnüren tanzen lässt.
Faktisch sind die genannten Prominenten ebenso real wie Paul von Hartmann und Hugh Legat. Harris bedient sich dieser Figuren, um außerhalb des gewählten Rahmens agieren zu können. Anders als in seinem Roman-Debüt Vaterland hält sich Harris an die Fakten. Es gibt nie einen Zweifel daran, dass man das infame Abkommen unterzeichnen wird. Alternativen werden durch von Hartmann und Legat immerhin angedeutet: Es hätte anders kommen können.
Gefangene des Protokolls
Von Hartmann und Legat eignen sich als Identifikationsfiguren, weil sie die Leser vertretungsweise mit dem Alltag in England und in Nazi-Deutschland - wieder gesehen durch Harris Augen - vertraut machen. Sie sehen und hören, was nie Teil einer offiziellen Geschichtsschreibung wurde, und vermitteln Zeitkolorit - Stimmungen, Straßenszenen, Nebensächliches, aber Aussagekräftiges. München hat das nötig, denn nicht nur die Anhänger des handlungsbetonten Thrillers werden monieren, dass nur wenig geschieht: München bietet nachgespielte Geschichte.
Zwischenmenschliche Konflikte, die üblicherweise solche Strenge aufweichen, werden von Harris erkennbar als lästige Pflicht nebenbei eingeschoben: Legats Frau betrügt ihn, und von Hartmanns große Liebe wurde von Nazi-Rohlingen ins Koma geprügelt. Allerdings sind von Hartmann und Legat denkbar blasse Gestalten. Sie bleiben Funktionsträger, die man menschlich nicht zur Kenntnis nimmt und deren Schicksale gleichgültig lassen. Dafür unterwerfen sie sich wie von Harris geplant dem Plot, der mit dem Münchner Abkommen identisch ist.
Den lauen Höhepunkt im Finale kupfert Harris von sich selbst ab: Von Hartmann trifft sich trotz Überwachung durch den notorisch misstrauischen SS-Widerling Sauer und dank Legats Unterstützung mit Chamberlain, um ihm ein geheimes Dokument zu überreichen, das Hitlers Kriegstreiberei unmissverständlich fixiert. In Vaterland brachte ein identischer Plan den US-Präsidenten dazu, Hitler zu brüskieren, Nazi-Deutschland zu verlassen und einen wichtigen Pakt platzen zu lassen. Dieses Mal ist Harris realistischer (oder zynischer?): Der mutigen Tat eines ehrenwerten Mannes folgt kein Happy End, sondern eine Lektion in diplomatischer Pragmatik.
Insofern bietet München durchaus Dramatik und Tragik - dies freilich jenseits von Schießereien, Fluchten in letzter Sekunde und entsagungsvoller Casablanca-Liebe, die Hollywood im Rahmen einer Verfilmung einflechten würde. Wer sich auf Harris einlässt, wird mit einer gut geschriebenen Geschichte belohnt. Der Autor ist keineswegs jenes schriftstellerische Genie, zu dem ihn die Werbung gern erheben würde, doch er ist ein Profi, der beinahe jährlich einen neuen Bestseller vorlegt. Der geschickte Sprung zwischen Orten und Zeiten - Harris thrillert in der römischen Antike (Cicero-Trilogie), im Mittelalter (Konklave), in der jüngeren Geschichte und in der Gegenwart - übertüncht, dass es ihm grundsätzlich um Intrigen und die Mechanismen von Macht geht. Seine Nische hat er gefunden, und er liefert solide Ware: Das ist auch dieses Mal eine Konstante, die wesentlich Lektüre-wichtiger ist als Hirn-betäubendes Hype-Gedröhn.
Robert Harris, Heyne
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