Der Freund der Toten
- DuMont
- Erschienen: Januar 2017
- 2
- Edinburgh: Canongate, 2016, Titel: 'Himself', Originalsprache
- Köln: DuMont, 2017, Seiten: 380, Übersetzt: Klaus Timmermann & Ulrike Wasel
So etwas ist nur in Irland möglich - Gottseidank!
Im irischen Mulderrig sind Fremde nicht willkommen. Auch der sympathisch-abgerissene Mahony nicht, der obendrein etwas beunruhigend Vertrautes an sich hat. Dass er das mysteriöse Verschwinden seiner blutjungen Mutter vor mehr als 20 Jahren aufklären will, stimmt die Dorfbewohner nicht freundlicher. Ganz im Gegenteil. Einzig die exzentrische und scharfzüngige alte Mrs Cauley unterstützt ihn tatkräftig - denn sie glaubt schon lange, dass jeder weiß, was damals wirklich geschah...
Viele, die von der Idylle Irlands begeistert sind, vergessen in der Regel eine grausame Besonderheit dieser schönen Insel: Wer bis in die Neunziger Jahre hinein als Frau einen "liederlichen Lebenswandel" präsentierte, die Frechheit besaß, mit hoch erhobenen Kopf und einem nicht-ehelichen Kind durch die Straßen zu spazieren oder es mit Moral und Monogamie nicht so genau nahm, der zog sich den Zorn der Dorfgemeinschaft zu und fand sich nicht selten in einem der berüchtigten Häuser der "Magdalenen-Wäschereien" wieder. Frauen wurden hier ohne Anklage, ohne Strafbemessung eingesperrt, und fristeten bei harter Arbeit und unmenschlicher Behandlung ein trauriges Schicksal. Die letzte Magdalenen-Wäscherei schloss in Dublin erst im Jahr 1996.
Über das Verschwinden will niemand reden
Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass es niemanden sonderlich interessiert, als die blutjunge Orla mit ihrem nichtehelichen Kind sang und klanglos verschwindet. Allgemein macht das Gerücht die Runde, sie sei mit ihrem Kind nach Amerika ausgewandert - tatsächlich glaubt das aber niemand so recht. Andererseits sind aber auch fast alle der Meinung, dass die unmoralische Nymphe sicherlich das bekommen hat, was ihr zusteht. Aber darüber reden, möchte natürlich auch niemand.
Selbstredend passt es daher auch niemandem in den Kram, als der sympathische, schmuddelige Mahony rund 25 Jahre später aus der "großen" Stadt Dublin auftaucht - vorgeblich um Urlaub zu machen - tatsächlich aber um seine Mutter zu suchen, die ihn einst auf den Stufen eines Klosters ablegte. Jahrelang hatte sich das Kind in dem Glauben, es sei der Mutter gleichgültig gewesen, durchs Leben geschlagen. Erst als junger Erwachsener erfährt er, dass dem nicht so war und dass die Trennung von der Mutter möglicherweise erzwungen wurde.
Mahony verfügt über eine ungewöhnliche Eigenschaft
Bis zu diesem Punkt würde die Geschichte, die sich hier um die Suche nach einer alten Schuld dreht und nach Tätern sucht, die mittlerweile die Stützpfeiler der Gesellschaft bilden, vielen anderen gleichen. Allerdings hat sich die Autorin Jess Kidd hier einen besonderen Dreh einfallen lassen, vermag doch ihr Held Tote zu sehen. Das mag seit dem Film "The Sixth Sense" nicht vollkommen unerhört sein, dennoch ist diese Eigenschaft für einen Krimi mehr als ungewöhnlich. Dieser Punkt ist dann auch der Dreh- und Angelpunkt, der einen Teil der Leser vermutlich für diesen Krimi begeistert, wogegen ein anderer diesen mystischen Blödsinn vermutlich in die nächstbeste Ecke pfeffert.
Bei Mahonys Nachforschungen spielen dennoch die Geister oder Abbilder der Toten eine wichtige Rolle. Sie können wichtige Hinweise vermitteln, können Gedanken in die richtige Richtung lenken, können dem Womanizer Mahony aber auch gelegentlich mal klar machen, was sie von seiner Art halten. Ungewöhnlich wird der Krimi aber auch durch gelegentlich andere Eskapaden, wie sie irische Geschichten gerne einmal hervorbringen. Da sprudelt in der Bibliothek des Dorfpfarrers plötzlich ein fröhliche Quelle, die alsbald eine Unmenge von Fröschen anzieht, der selbst die wackere Haushälterin, die die Tierchen korbweise aus dem Haus bugsiert, nicht mehr Herr zu werden vermag.
"Roisin deutet mit dem Kopf auf den Eimer an der Tür, den sie mindestens sechs Mal am Tags bis zum Rand mit wimmelnden Amphibien füllt. Doch ganz gleich, wie weit sie sie vom Haus wegbringt, sie finden immer wieder zurück. Gestern hat sei eine ganze Schar in einen Picknickkorb gepackt und im Bus mit nach Ennismore genommen. Doch genau dieselben Frösche, so hätte sie schwören können, warteten schon wieder in der Diele als sie zurückkam."
Dennoch ist es Jess Kidd gelungen, trotz dieser kleinen irischen Eskapaden einen spannenden Krimi zu erschaffen, bei dem den Lesern auch gelegentlich das Schmunzeln auf den Lippen gefriert. So spiegelt der Geist der kleinen Ida wieder, wie sie zu Lebzeiten war - ein fröhliches und kleines Mädchen. Ein kleines Mädchen, das bei einem der frühen irischen Verkehrsunfälle zu Schaden kam - so wurde beim Auffinden ihres Körpers entschieden. Undenkbar, dass vielleicht etwas anderes dahinter steckte. Undenkbar auch das Geheimnis, dass die korrekte Witwe Annie Farelly hinter ihrer strengen Miene sorgfältig verwahrt. Es ist generell eine große Menge Bosheit und schlichter, alter biblischer Verderbtheit, die in diesem kleinen Dorf zum Tragen kommt.
Die Toten treiben überall und nirgends ihr Unwesen
Als kleines Manko ist allenfalls zu bemängeln, dass Kidd es gelegentlich mit dem Reigen der Verstorbenen übertreibt, die fröhlich überall und nirgends ihr Unwesen treiben und daher nicht zur Übersichtlichkeit beitragen. Unklar bleibt leider auch, warum Mahony alle Toten sehen kann, sich seine Mutter aber vor seinen Augen verbirgt. Dieser Umstand sorgt natürlich zu Beginn des Buches dafür, dass der Held der Geschichte nicht weiß, ob seine Mutter noch lebt oder doch verstorben ist, dennoch wäre hier eine Aufklärung wünschenswert gelesen.
"Der Freund der Toten" ist nicht mit den generellen Bewertungsmaßstäben zu messen. Wer mystischen Hokus-Pokus und kleine irische Anekdötchen, die auf keinen Fall der Realität entstammen, in Krimis nicht duldet, der vergibt allenfalls 10° für eine gut gemachte und aufgelöste Geschichte. Wer ein bisschen Spaß an kuriosen Erzählungen hat, der ist gerne bereit hier einen Treffer zu geben - und da ich mich ja nun auf eine Seite schlagen muss, vergebe ich hier gerne 80°.
Jess Kidd, DuMont
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