Frost in Neapel
- Kindler
- Erschienen: Januar 2017
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- Turin: Einaudi, 2014, Titel: 'Gelo per i bastardi di Pizzofalcone', Seiten: 320, Originalsprache
- Hamburg: Kindler, 2017, Seiten: 368, Übersetzt: Susanne Van Volxem
Vierter Neapel-Krimi um Giuseppe Lojacono
Der junge Biochemiker Renato Forgione findet seinen Kollegen und besten Freund Biagio Varricchio und dessen wunderschöne Schwester Grazia tot in ihrer Wohnung. Biagio wurde der Schädel eingeschlagen, Grazia erwürgt und anscheinend vergewaltigt.
Inspektor Giuseppe Lojacono und seine Kollegin Alessandra "Alex" Di Nardo vom berüchtigten Kommissariat Pizzofalcone ermitteln. Berüchtigt ist die Dienststelle, weil frühere Kollegen beschlagnahmte Drogen weiterverkauft hatten. Seitdem nennt man die Polizisten dieses Reviers auch "die Gauner von Pizzofalcone".
Biagio studierte in Neapel und arbeitete als Wissenschaftler an der Uni, seine Schwester war erst vor einigen Monaten nachgezogen, aus dem kalabrischen Kaff, in dem beide geboren wurden. Der Hauptverdächtige ist Cosimo Varricchio, der Vater der beiden. Varricchio, der gerade sechzehn Jahre wegen Mordes abgesessen hatte, wollte seine Tochter zurück nach Hause holen. Offenbar gab es am Mordtag einen heftigen Streit zwischen Vater und Sohn. Varricchio ist unauffindbar.
Verdächtig ist auch Grazias cholerischer Freund Domenico "Nick" Foti, ein erfolgloser Musiker, der sich mit Grazia gestritten hatte, weil sie als Model arbeitete.
Der dritte Verdächtige ist Carlo Cava, Chef der Modelagentur. Er verhehlt nicht seine Bewunderung für Grazia und seine Enttäuschung darüber, dass sie nicht bei seiner Agentur bleiben wollte.
Lojacono und Alex müssen sich beeilen, denn wenn sie den Täter nicht bald haben, droht die Schließung des Kommissariats.
Derweil ermitteln ihre Kollegen Aragona und Romano in anderer Sache. Die Lehrerin Macciaroli glaubt, dass Martina Parise, eine Schülerin aus der 7b, vom eigenen Vater sexuell belästigt oder gar missbraucht wird. Hinweise darauf finden sich in dreien ihrer Aufsätze.
Derweil geht der stellvertretende Kommissar Giorgio Pisanelli außerhalb der Dienstzeit seiner von den Kollegen belächelten Theorie nach, dass die vielen Selbstmorde in seinem Viertel tatsächlich Morde sind. Er spricht mit Pater Leonardo Calisi über seinen Verdacht und seine Befürchtung, die unglückliche Agnese könne das nächste Opfer sein.
Gebrandmarkt als Informant der Mafia
"Frost in Neapel" ist Maurizio de Giovannis vierter Kriminalroman um den neapolitanischen Commissario Giuseppe Lojacono, nach dem preisgekrönten "Das Krokodil", "Die Gauner von Pizzofalcone" und "Der dunkle Ritter". Der Sizilianer Lojacono war Mitglied des Mobilen Einsatzkommandos Agrigento, bis ihn der Mafioso Di Fede in einem Kronzeugenprozess als Informanten denunzierte. Die Staatsanwaltschaft suspendierte ihn daraufhin. Alle wandten sich von ihm ab, wobei es keine Rolle spielt, ob er Freund oder Feind der Mafia ist. Selbst seine Frau Sonia und seine Tochter Marinella glaubten ihm nicht bedingungslos und zogen nach Palermo. Lojacono wurde nach Neapel versetzt, zum Revier San Gaetano, wo er seine Zeit am Computer mit Pokerspielen totschlug.
Inzwischen lebt seine Tochter bei ihm und er arbeitet in Pizzofalcone, einem Kommissariat, das aus einem zusammengewürfelten Haufen von Polizisten besteht, die auffällig geworden sind. Nur Pisanelli und Ottavia Calabrese sind noch vom früheren Team übriggeblieben.
Lojacono ist zwar die nominelle Hauptfigur, aber er steht nicht allein im Zentrum. Es gibt ein Figuren-Ensemble, zusammengesetzt aus dem siebenköpfigen Polizeiteam, diversen Verdächtigen und Zeugen. Jeder von ihnen hat ein Eigenleben und spielt seine eigene Rolle.
Alle Ermittler kämpfen mit ihren eigenen Dämonen
Die Polizisten haben nicht nur gegen das Verbrechen zu kämpfen, sondern auch mit ihren eigenen Problemen. Alle sind in irgendeiner Art belastet, mit dem Alter, einer tödlichen Krankheit, Einsamkeit. So führt Aragona privat eine lächerlich anmutende Scheinexistenz. Er lebt in einem Hotel, himmelt die weibliche Bedienung im Frühstücksraum an und inszeniert sich als Superheld mit einstudierten Gesten aus Hollywood-Filmen. Der Choleriker Romano hat seine Frau geschlagen und lauert ihr nun auf, um sie zurückzuholen. Lojacono, ein Mann von eiskaltem Charakter und erstarrter Mimik, ist in die falsche Frau verliebt, jedenfalls nach Ansicht Marinellas. Pisanelli, der dienstälteste, trauert seiner toten Frau nach, ist alt und krank, hat als einzigen Vertrauten nur einen gnomenhaften Mönch. Besessen von Tod und Mord jagt er seiner offenbar fixen Idee vom "Selbstmörder-Mörder" nach.
Die lesbische Alex lebt unter der Kuratel ihres tyrannischen Vaters, hat Angst sich zu outen und zu ihrer Liebe zu stehen. Ottavia hat eine eigene Familie, ist aber mit ihr unglücklich und sehnt sich nach einem anderen Mann und einem anderen Leben.
Die gedachten Paare beobachten sich, steuern aufeinander zu, um im letzten Moment auszuweichen und wieder auseinanderzudriften, Verletzungen inbegriffen. Es gibt Tangentialpunkte, leichte Berührungen unter Vorbehalt, Ansätze von Zweisamkeit ohne Gewähr. Immer ist das Glück eine Illusion, das Erwachen nicht bloß enttäuschend, sondern vernichtend. Auch das Verhältnis zwischen Lojacono und seiner Tochter bekommt einen Riss, der offenbar nicht zu kitten ist. Doch ausgerechnet seine Rolle als Vater hilft Lojacono bei der Klärung des Doppelmordes.
Dauerfrost herrscht auch in der Familie
In Neapel herrscht Eiseskälte, nicht nur meteorologisch. Frost (so auch der Originaltitel) durchzieht die Gesellschaft. Kälte bildet den Nährboden für Intrigen und Morde, wobei sich die von verletzter Eitelkeit und Gier getriebenen Täter in einer moralisch verqueren Rechtfertigungsstrategie als die eigentlichen Opfer oder Seelenretter inszenieren.
Dauerfrost herrscht auch in der Familie, die geprägt ist von Tyrannei, emotionaler Erstarrung, Erpressung, unerfüllbaren Erwartungen, Lüge, Gewalt. Das Zuhause ist kein Ort von menschlicher Wärme, Vertrauen oder Sicherheit. Offenheit und Ehrlichkeit gibt es nicht, auch und erst recht nicht dort, wo man sie familienideologisch gemeinhin verortet.
Giovanni erzählt die Geschichte gradlinig, ohne Zeitsprünge, Rückblicke, Verwicklungen oder überraschende Wendungen, die drei Fälle sind nicht ineinander verstrickt. Eingestreut in die standardisierte Narration sind einige Kapitel aus Sicht des Mörders und der Verdächtigen, sowie chorartige Passagen, die an eine griechische Tragödie erinnern.
Am Ende werden zwei der Fälle aufgeklärt, der dritte bleibt offen - allerdings nicht für den Leser. Ein düsterer Kriminalroman aus Italien über den Zerfall von Familie und Gesellschaft, sarkastisch und zynisch, verfasst in klarem, nüchternem Stil.
Maurizio de Giovanni, Kindler
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