Gedenke der Toten
- Goldmann
- Erschienen: August 2017
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- London: Michael Joseph, 2015, Titel: 'Prayer for the dead', Seiten: 472, Originalsprache
- München: Goldmann, 2017, Seiten: 480, Übersetzt: Michael Benthack
Wer reinen Herzens ist, soll sterben
Wie seine Kollegen meidet Detective Inspector Tony McLean von der „Specialist Crime Devision“ Edinburgh tunlichst die Vertreter der Medien, die polizeiliches ‚Versagen‘ gern zur Schlagzeile aufbauschen. Als ihn die diesbezüglich besonders erfolgreiche und verhasste Jo Dalgliesh auf das Verschwinden eines bekannten Klatsch-Journalisten anspricht, reagiert McLean deshalb eher erfreut. Das ändert sich, als man den vermissten Ben Stevenson kurz darauf aus einer der uralten Höhlen zieht, die sich unter vielen Straßenzügen der Stadt hinziehen.
Was hat Stevenson dort gesucht - und wer hat ihm die Kehle durchgeschnitten? Stevenson hatte angedeutet, einer großen Sache auf der Spur zu sein. Die Sichtung seiner Arbeitsunterlagen weist auf ein eher obskures Recherchefeld hin: Stevenson hat sich um die Aktivitäten diverser obskurer, oft vergessener ‚Geheimgesellschaften‘ gekümmert. Vor allem die Mitglieder der „Bruderschaft“ halten demnach seit jeher die Fäden in der Hand, mit der sie - womöglich nicht nur in Edinburgh - die Geschicke der ahnungslosen Bürger lenken.
Gemeinsam mit der Kollegin Detective Sergeant Ritchie wagt sich McLean ungern in ein Milieu vor, das durch Verfolgungswahn und Verschwörer-Gemunkel dominiert wird. Entsprechend zäh gestalten sich die Ermittlungen, weshalb Detective Superintendent „Dagwood“ Duguid, McLeans geduldarmer Vorgesetzter, dem geplagten Beamten noch schwerer als sonst im Nacken sitzt. Das verschärft sich, als in Stevensons Wohnung ein menschliches Herz gefunden wird. Parallel dazu stellen McLean und Ritchie fest, dass der ermordete Journalist offenbar eine neue Fährte aufgenommen hatte. Stevenson interessierte sich für einen mysteriösen Mann, der womöglich unter dem Deckmantel esoterischen Wissens, das er zu teilen bereit ist, als Serienmörder aktiv ist. Gegen den Widerstand seines skeptischen Vorgesetzten folgt McLean den kargen Hinweisen - und kommt nicht zum ersten Mal Mächten in Gehege, die nicht von dieser Welt sind …
Schrecken und Stumpfsinn des Ermittleralltags
Schottische Polizei-Ermittler stellen so etwas wie Brüder (und Schwestern) im Alltagselend dar. Vor allem mit Logan McRae (von Stuart MacBride) und John Rebus (von Ian Rankin) sitzt Tony McLean in einem Boot, das cholerische, inkompetente Vorgesetzten nicht steuern, sondern planlos über eine unruhige See manövrieren, während der Kurs von wankelmütigen Politikern und sensationslüsternen Medien bestimmt wird. Zum übersteigerten Erwartungsdruck gesellt sich der Rotstift. Nie gibt es genug Ressourcen, aber eine Flut von Verbrechen, die besagtes Boot endgültig zum Kentern bringen wollen.
Beinahe ebenso schwierig wie die Aufklärung krimineller Taten ist die Befolgung faktisch nutzloser Vorschriften, mit deren Formulierung und Durchsetzung sich Polizisten einen Namen machen, die den Schreibtisch möglichst nicht verlassen wollen, um ihn als Sprungbrett dorthin zu nutzen, wo Macht ausgeübt und Geld verdient wird. Wer da nicht mitspielen kann oder mag, wird zum Außenseiter und Störenfried abgestempelt.
Anders als John Rebus, der den Kampf gegen die Windmühlen der Bürokratie einfallsreich und immer gern aufnimmt, wird Tony McLean von deren Flügeln in den Nacken getroffen. Allerdings rappelt er sich umgehend wieder auf und verinnerlicht, was der moderne Ermittler wissen muss, wenn er seiner eigentlichen Tätigkeit nachgehen möchte: Er meidet seinen Schreibtisch und das Polizeirevier. Übertroffen wird McLean in seinem Fatalismus höchstens vom Kollegen „Grumpy Bob“ Laird, der sich angesichts der nahenden Pensionierung gar nicht mehr scheuchen lässt.
Jagdeifer und Fahndungswirrwarr
Die Tony-McLean-Serie wandelt auf ungewöhnlichen Pfaden. Einerseits erzählt Autor James Oswald moderne Kriminalgeschichten, die ganz im Hier und Jetzt angesiedelt sind. Gleichzeitig gerät McLean immer wieder in buchstäblich übernatürliche Gefilde, wo nicht nur böse, sondern tatsächlich dämonische Kräfte sich manifestieren. Während die Phantastik im Vorgängerband das Finale dominierte, bleiben die Kreaturen der Finsternis dieses Mal im Hintergrund. Etwas Unheimliches geht dennoch vor in jenen Bereichen der Stadt, die nicht ohne weiteres zugänglich sind. McLean verdrängt sein Wissen gern - oder vergisst es, wenn es dem Verfasser besser ins Konzept passt. Außerdem ist er durch seinen aktuellen Fall abgelenkt. Nichtsdestotrotz sorgt Oswald dafür, dass weder McLean noch wir, die Leser, jenes buchstäbliche Ab- oder Jenseits vergessen: Es bringt sich in Stellung, um in einem der Folgebände wieder präsenter zu werden.
Im Vordergrund steht also der Kriminalist McLean. Der ist trotz des ewigen Ärgers im Revier genretypisch ein ebenso fähiger wie begeisterungsfähiger Polizist geblieben. Seine Methoden sind nicht modern bzw. modisch, sondern haben sich ‚an der Front‘ bewährt. Das schließt die Akzeptanz von Verzögerungen und Irrtümern ein: Wer gründlich arbeitet, lotet sämtliche Möglichkeiten aus.
Das ist Krimi-Alltag, den auch die Leser schätzen, weil er Teil der Handlung ist. Allerdings tritt McLean - oder Oswald - dieses Mal ein wenig zu sehr auf der Stelle. Die Ermittlungen zerfasern. Man könnte annehmen, dass Oswald nicht recht wusste, welche Geschichte er erzählen wollte. Dazu passt ein Auftakt, der in den (realen) Höhlen unter Edinburgh spielt und in grausigen Details vor uns ausgebreitet wird, was in Vergessenheit gerät, als das Geschehen - bedingt plausibel - eine völlig andere Richtung einschlägt.
Neugier und die Spinne im Netz
Zwar sorgt Oswald im Epilog dafür, dass der entlarvte Bösewicht nicht nur überlebt, sondern sich als Sendbote der weiter oben erwähnten Munkel-Mächte outet. Ansonsten haben wir es mit dem üblichen Spinner zu tun, der im Auftrag einer selbst ausgedachten Gottheit reine, also selbstlose Männer und Frauen blutig abschlachtet und so zum Heil führt. Seine Untaten wiederholt er mehrfach, bis irgendwann die letzte Seite in Sicht gerät und der Verfasser den Sack zuschnürt. Das könnte früher, aber auch später geschehen und führt zu Leerlauf im Mittelteil.
Hinzu kommen die heute in der Kriminalliteratur unvermeidbaren privaten Probleme des Ermittlers, obwohl Oswald sich in dieser Hinsicht erfreulich zurückhält bzw. entsprechende Sentenzen so gut wie möglich in die Handlung integriert - eine Tugend, die sich in diesem Genre unbedingt verbreiten sollte. Zwischen MacBride und Rankin dürfte er trotzdem weiterhin im Schatten stehen, was schade ist, weshalb potenzielle Leser auf diesen Verfasser hingewiesen werden.
Fazit:
Band 5 der Tony-McLean-Serie setzt den Schwerpunkt auf das kriminelle/kriminalistische Geschehen, ohne den phantastischen Unterton gänzlich auszublenden. Ein wenig verworren im Mittelteil und ohne wirklich fesselnden Plot, bestimmt Routine auf solidem Niveau diesen Roman.
James Oswald, Goldmann
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