Totenfang
- Argon
- Erschienen: Januar 2016
- 25
- Berlin: Argon, 2016, Übersetzt: Johannes Steck, Bemerkung: ungekürzte Ausgabe
- London: Bantam Press, 2017, Titel: 'The Restless Dead', Originalsprache
Zurück zu den Wurzeln
Simon Becketts schriftstellerische Laufbahn begann im englischsprachigen Raum Mitte der 1990er Jahre. Einem deutschen Publikum blieben die Romane dieser Dekade vorerst vorenthalten - nicht ohne Grund, denn über deren Qualität lässt sich, besonders aus der Sicht eines Krimi-Lesers, trefflich streiten. Der Rowolth Verlag, der Simon Beckett für Deutschland unter Vertrag hat, veröffentlichte sie peu à peu in den 2000er Jahren, um die zeitlichen Lücken zwischen den David-Hunter-Romanen zu füllen. Die Begeisterung über diese "Lückenbüßer" hielt sich selbstredend in Grenzen. Es gab sogar Stimmen, die von "kalkulierter Geldschneiderei" sprachen.
Der kometenhafte Aufstieg des Autors in Deutschland gründete im 2006 erschienenen Die Chemie des Todes, dem Auftakt der David-Hunter-Reihe. In dieser Zeit hatten Krimis und Thriller mit forensischen Anthropologen, Pathologen oder Gerichtsmedizinern gerade Hochkonjunktur. Man erinnere sich an die Phalanx der amerikanischen Erfolgsautorinnen wie Kathy Reichs, Patricia Cornwell, Tess Gerritsen oder Karin Slaughter, deren Heldinnen den Weg bereiteten für den forensischen Anthropologen David Hunter. Dem ersten Hunter-Roman folgten Schlag auf Schlag Kalte Asche (2007), Leichenblässe (2009) und Verwesung (2010). Aufgrund des enormen Zeitdrucks, unter dem Beckett stand oder sich setzte, waren erste Abnutzungserscheinungen nicht übersehbar. Der Autor legte eine kreative Pause ein. Jetzt im Herbst 2016 ist er zurück mit seinem 5. David-Hunter-Roman Totenfang.
David Hunter ist nicht gut drauf. Seine Anstellung als Anthropologe bei einer Londoner Uni steht auf der Kippe, seine Einsätze als beratenden Forensiker für die Polizei sind auch rarer geworden und das bevorstehende verlängerte Wochenende, das er bei Freunden auf dem Lande verbringen will, wirkt auf einmal auch nicht mehr so reizvoll, wie er es geplant hatte. Als ihn am Abend vor der Abfahrt der Abruf eines ihm unbekannten Detective Inspector Lundy aus Essex erreicht und ihn bittet, bei der Bergung einer Wasserleiche zugegen zu sein, ist er alles andere als abgeneigt. Am nächsten Morgen macht er sich zeitig auf den Weg, obwohl das Küstengebiet nördlich der Themsemündung nur eine kurze Fahrtstrecke von London entfernt ist.
Auf dem Gelände einer geschlossenen Austernfischerei finden sich die Suchmannschaften und ein paar unerwartete Zuschauer ein. Unter letzteren befindet sich auch Sir Stephen Villiers, ein vermögender Gutsherr aus der Gegend, der befürchtet, dass die geborgene Leiche sein vor einem Monat spurlos verschwundener Sohn sein könnte. Die Befürchtung scheint sich zu bestätigen, als Villiers die Kleidung und die Armbanduhr des Toten als die seines Sohnes identifizieren kann. Die Leiche weist eine schwerwiegende Schussverletzung im Kopfbereich aus, die sich der junge Mann selbst zugefügt haben könnte. Ein genaueres Ergebnis kann nur eine Obduktion liefern, die auch alsbald stattfinden soll, zu der Hunter auch geladen ist. Auf dem Weg dorthin verfährt er sich und bleibt mit seinem Auto in einer Furt stecken. Erst am späten Nachmittag kann er von einem Anwohner aus seiner misslichen Lage befreit werden. Da sein Fahrzeug größeren Schaden genommen hat, muss er in einem Ferienhaus seines Retters übernachten. Am Folgetag wird eine weitere Wasserleiche entdeckt und Hunter bekommt doch noch die Gelegenheit, seine fachlichen Kompetenzen einzusetzen. Vieles entwickelt sich anders, als es auf den ersten Blick zu sein scheint.
Simon Beckett ist ein guter Erzähler. Seine etwas behäbig daherkommende Plotentwicklung kompensiert er durch seine atmosphärisch dichte Beschreibungen des Küstenstriches um das Mündungsgebiet des Blackwater River. Das Marschland, das Watt, das Auf und Ab der Gezeiten, die kleinen halbverlassenen Küstenorte, Sturm und Regen erzeugen diese eigentümlich schauerliche Stimmung, wie wir sie aus britischen Romanen und Fernsehproduktionen kennen. In diese Landschaft passt nun genau ein Ermittler gesetzten Alters, der durch sein privates Schicksal und seine beruflichen Erfahrungen gereift einen komplizierten Fall zu durchdringen weiß. Dabei stehen seine Fähigkeiten als forensischer Anthropologe diesmal nicht so sehr im Vordergrund, was den Zartbesaiteten (inklusive dem Rezensenten) gefallen wird (hat).
An Totenfang gibt es nicht viel zu meckern, außer vielleicht, dass Simon Beckett die Spannungsschraube erst ziemlich spät anzieht. Aber dann geht es Schlag auf Schlag, der solide Kriminalroman steigert sich zu einem packenden Actionthriller. Ein Handicap, das allen Ich-Erzähler-Romanen anhaftet, bleibt bestehen, das ist die relative Unsterblichkeit des Hauptprotagonisten. Gute Autoren - man darf Simon Beckett dazu zählen - schaffen es aber, die Todesängste des Helden so zu vermitteln, dass der Leser gebannt mitzittert. Dazu gehört eine Verbundenheit, vielleicht gar Identifikation des Lesers mit dem Helden, was im Falle eines David Hunter nicht schwerfällt. Hunter ist ein sympathischer Mann, der den Verlust von Ehefrau und Tochter nun endlich überwunden hat und frei ist, sich auf eine neue Beziehung einzulassen. Sehr angenehm dabei, dass Beckett die Liebesgeschichte nicht über die Gebühr forciert.
Die deutschen Verlage haben es endlich geschafft, die imaginäre 20-Euro-Schwelle für gebundene Bücher zu überschreiten. Ob diese Preissteigerung gerechtfertigt ist, soll hier nicht diskutiert werden. Totenfang kostet 22,90 ¤, das ist ein stolzer Preis, dessen Akzeptanz überlegt sein sollte. Liebhaber der Hunter-Reihe können dennoch getrost zugreifen, denn Totenfang steht in punkto Qualität den beiden ersten Hunter-Romanen in nichts nach. Wer die Reihe noch nicht kennt, der sollte besser mit Die Chemie des Todes und Kalte Asche im preiswerten Taschenbuchformat beginnen.
Simon Beckett, Argon
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