V5N6
- Kunstmann
- Erschienen: Januar 2016
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- London: John Murray, 2014, Titel: 'A lovely way to burn', Seiten: 368, Originalsprache
- München: Kunstmann, 2016, Seiten: 351, Übersetzt: Wolfgang Müller
Shopping-Müll-Moderatorin gegen Seuche und Verbrecher
Stevie Flint gehört zu jenen Blendern, die auf einem Shopping-Sender in London überteuerten Ramsch anpreisen. Den Job erledigt sie im Halbschlaf; er erfüllt sie naturgemäß mit wenig Arbeitsstolz. Privat läuft es aktuell besser. Stevie ist mit dem Arzt Simon Sharkey zusammen, der zwar in einem Krankenhaus beschäftigt ist, dort jedoch an einer privat finanzierten Pharma-Studie mitarbeitet, was ihm ein beachtliches Einkommen sichert.
Nachdem sich Sharkey einige Tage nicht bei ihr gemeldet hat, besucht ihn Stevie in seiner Wohnung. Im Schlafzimmer findet sie ihn; nicht mit einer anderen Frau, sondern mausetot - und das schon länger. Die Polizei kann keine Hinweise auf ein Verbrechen entdecken. Die Ermittlungen sind nicht sehr intensiv, denn in London geht eine grippeähnliche Krankheit um, die sich rasant ausbreitet und viele Opfer fordert. Hinzu kommt eine Reihe seltsamer Massenmorde: Angesehene Mitglieder der Regierung oder der Oberschicht drehen durch und bringen Mitmenschen um, bevor sie sich selbst töten.
Stevie erkrankt an der "Grippe", gehört aber zu den Überlebenden. Als sie eine Freundin im Krankenhaus besuchen will, erregt dies das Interesse einiger Ärzte, die sich als Kollegen des verstorbenen Sharkey herausstellen. Wieso ist Stevie ohne Hilfe gesund geworden? Dass mehr als wissenschaftliches Interesse dahintersteckt, muss die junge Frau erfahren, als sie Sharkeys Laptop findet: Der Arzt war in ein Forscherkomplott verwickelt. "Experimente" gerieten aus dem Ruder und forderten Opfer. Als sich sein Gewissen rührte, hat man den lästigen Mahner ausgeschaltet. Da die Verschwörer außerdem korrekt argwöhnen, dass Sharkey belastende Beweise gesammelt hat, konzentrieren sie ihr Interesse nunmehr auf die nicht mehr lange ahnungslose Stevie...
Gerechtigkeit trotz Apokalypse
"Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen." Diesen markigen Sprach hat Martin Luther, dem er zugeschrieben wird, zwar nie geprägt, aber eignet sich trotzdem gut, um eine Sparte der Science-Fiction-Literatur zu schubladisieren, die den Titel "Post Doomsday" trägt. Hier geht es in der Regel um das Überleben nach einer Apokalypse, die zwar die Mehrheit der Menschheit dahinrafft, jedoch eine kleine Schar besonders entschlossener Zeitgenossen verschont, die sich daranmachen, ihre Welt neu zu besiedeln bzw. zu erobern.
Eher selten sind jene Vertreter, deren Blick nicht fest in die postatomare, von Viren oder Zombies verheerte Zukunft gerichtet ist, sondern ganz im Hier und Jetzt verharrt, obwohl diese Gegenwart gerade den Bach heruntergeht. Es liegt wohl auch an einer generellen veränderten Weltsicht, die nicht mehr wie noch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg davon ausgeht, dass "Zukunft" gleichzusetzen ist mit "Alles wird (entweder generell oder irgendwann wieder) besser".
Ganz besonders überlebensuntauglich wirkt Stevie Flint, die "Heldin" des hier vorgestellten Romans, weil sie sich den üblichen Survival-Strategien verweigert, obwohl sie eigentlich prädestiniert für einen Neustart wäre: Die mysteriöse Epidemie, die just England entvölkert, hat sie zwar erwischt, aber nicht umgebracht und - ein Bonus - immun gemacht. Trotzdem rafft Stevie nicht Lebensmittel und Waffen zusammen, um anschließend in ein verbarrikadierbares Landhaus zu flüchten, sondern verharrt verbissen in London, um den Mord an ihrem Lebensgefährten aufzuklären.
Ein Schneeball in der Fiebersonne
Immer wieder wird Stevie eindringlich darauf hingewiesen, dass die Welt derzeit größere Sorgen habe als die Ermittlung in einem Kriminalfall. Was die Leser plausibel finden, prallt an Stevie ab wie Wassertropfen von einer Ente. Zwar nimmt sie zur Kenntnis, dass um sie herum die Menschen sterben wie die Fliegen, während jegliche öffentliche Ordnung zusammenbricht, aber das hält sie nicht davon ab, auf der Suche nach Antworten kreuz und quer durch die sterbende Stadt zu hetzen.
Dieser Starrsinn wird nur ansatzweise erläutert; man muss akzeptieren, dass Stevies Suche ihre Methode ist, mit der Katastrophe fertigzuwerden. Zumindest in diesem ersten Band der geplanten "Plague-Times-Trilogie" fehlt eine echte Verknüpfung von Apokalypse und Privatschicksal. Zwar könnte man annehmen, dass die Mitglieder jenes Komplotts, in das auch Stevies Liebhaber verwickelt war, verantwortlich für die Seuche sind, doch in diesem Punkt nimmt das Geschehen eine andere Wendung - vorerst, denn die Geschichte wird fortgesetzt.
So bleibt "V5N6" - im Original viel schöner und vor allem geschickt doppeldeutig "A Lovely Way to Burn" betitelt - trotz der Science-Fiction- bzw. Horror-Kulisse ein "Frau-in-Gefahr"-Thriller, obwohl Welsh glücklicherweise die tückischen Klischee-Klippen dieses Genres meist umschifft; ein Aufsetzer ist u. a. eine recht abrupte Liebesnacht, in die Welsh ihre Protagonistin förmlich drängt, worüber sich diese anschließend selbst ausgiebig wundert. Freilich ist diese Stevie Flint ungeachtet ihrer Entschlossenheit nicht gerade eine Leuchte. Penetranz ist ihr Erfolgsrezept, charakterliche Tiefen werden ihr von der Autorin angehängt, gleiten aber an dieser Teflon-Figur ab.
Wer war es, und was steckt dahinter?
Um diese klassischen Fragen rankt sich das Kerngeschehen. Lange bleibt rätselhaft, wer den trügerisch tadellosen Dr. Sharkey - das englische Verb "to shark" bedeutet übersetzt "betrügen" oder "schwindeln" - gemeuchelt hat. Parallel dazu hat die entsetzte Stevie keine Ahnung, wieso Sharkey sterben musste.
Normalerweise wäre selbst ihr Drang nach Aufklärung kein Grund für Lebensgefahr; schließlich fällt gerade die Welt auseinander, was auch die Mörderbande nicht ausschließt, die deshalb an ganz andere Dinge denkt und die lästige Stevie ignorieren würde. In der Tat muss sich Welsh etwas ausdenken, um dennoch für jene Spannung zu sorgen, die aus permanenter Lebensgefahr erwächst. Wenn Stevie gerade nicht von enthemmten Plünderern, Schussfinger-zittrigen Soldaten oder um Hilfe flehenden Sterbenden bedrängt wird, müssen ein irrer Wissenschaftler und sein geistig labiler Scherge im Hintergrund tücken.
Das ist wahrlich keine originelle Idee, weshalb sich beim Leser eine gewisse Enttäuschung einstellt: Diese Knalltüten stecken hinter einem Verbrechen, das ebenfalls nicht gerade vor Innovation strotzt? (Auch sonst bleiben die Nebenfiguren eher Platzhalter.) Im Angesicht der Apokalypse ist dieses Finale keine Offenbarung. Man darf (oder muss) darauf hoffen, dass die Fortsetzung für den notwendigen Aha!-Effekt liefern kann.
Louise Welsh, Kunstmann
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