Ewige Jugend
- Diogenes
- Erschienen: Januar 2016
- 3
- Zürich: Diogenes, 2016, Seiten: 6, Übersetzt: Joachim Schönfeld, Bemerkung: ungekürzte Ausgabe
Ein Fall, so kalt wie die Fluten Venedigs
Commissario Brunetti wird von der Contessa Demetriana Lando Continui, einer Freundin seiner Schwiegermutter Donatella, um einen Gefallen gebeten. Vor fünfzehn Jahren war ihre Enkelin Manuela in den Rio San Baldo nahe ihrer Wohnung in Santa Croce gestürzt und beinahe ertrunken. Ein Passant sprang ins Wasser und zog das Mädchen aus dem Kanal, bevor er selber zusammenbrach. Ein anderer Mann eilte zu Hilfe und beatmete das Mädchen, bevor es ins Ospitale Civile kam, wo die Prognose als kritisch bezeichnet wurde. Sie überlebte, allerdings wegen des Sauerstoffmangels mit einem Hirnschaden. Früher eine passionierte Reiterin, kann sich die heute dreißigjährige Manuela weder an das Geschehen erinnern, noch an ihr geliebtes Pferd. Sie steckt auf dem Niveau eines siebenjährigen Kindes fest und lebt immer noch mit ihrer geschiedenen Mutter Barbara in der alten Wohnung in Santa Croce.
Die Polizei behandelte das Geschehen als Unfall. Die Contessa kann das nicht akzeptieren: Der Retter, der Manuela aus dem Wasser zog, gab zunächst an, einen Mann bei ihr gesehen zu haben. Doch da der notorische Säufer Pietro Cavanis sich tags darauf nicht mehr erinnern konnte, tat die Polizei seine erste Aussage als Einbildung ab. Versuchten Selbstmord schließt die Contessa aus, denn Manuela fürchtete sich seit einem Badeunfall vor den Gewässern und hielt sich von ihnen fern. Allerdings wirkte Manuela seit geraumer Zeit niedergeschlagen und traurig. Ihre Schwiegertochter hatte um Geld für einen Psychotherapeuten gebeten, doch die Contessa hatte abgelehnt.
Brunetti soll den Mann finden, von dem die Contessa glaubt, er habe Manuelas Leben ruiniert. Bewegt von dem traurigen Schicksal der Enkelin und dem Willen, einer 86-jährigen Großmutter ihren wohl letzten Wunsch zu erfüllen, beginnt Brunetti mit der Suche nach der Wahrheit. Dabei muss er tief in der Vergangenheit graben, stößt auf einen Toten und auf ein dunkles Geheimnis.
Liebe übertrumpft Prinzip
Ewige Jugend ist Donna Leons 25. Roman um Commissario Guido Brunetti aus Venedig, der diesmal in einen Fall hineingezogen wird, in dem vielleicht gar kein Verbrechen vorliegt. Ohne einen Verdächtigen zu haben, folgt Brunetti der üblichen Vorgehensweise. Er versucht das Umfeld Manuelas zu verstehen, muss herausfinden, was für ein Mädchen sie war. Seine Ermittlungen führen ihn zu einem Reitstall bei Preganziol und dem Zeugen von damals, der noch immer in der gleichen heruntergekommenen Wohnung am Rio Marin in Santa Croce haust. Da Manuela sich an nichts erinnert und das Unglück bereits fünfzehn Jahre zurückliegt, steht Brunetti vor einer besonderen Herausforderung. Denn viele, die etwas über das Mädchen hätten sagen können, leben nicht mehr oder sind verzogen, die Polizeiakten sind im Zuge der Digitalisierung verschollen, die Krankenhausakten in den Katakomben des Archivs versackt. Brunetti hat kaum Anhaltspunkte, die Sache scheint ihm mehr und mehr zu entgleiten, wie ein Tuch, das in den brackigen Gewässern Venedigs versinkt. Er bekommt nichts zu greifen. Schnell wird ihm klar, dass er nicht weiterkommt, wenn der Cold Case nicht offiziell neu geöffnet wird. Er wäre nicht Brunetti, fiele ihm nicht eine List ein, um seinen Vorgesetzten, Vice Questore Patta, an der Kette der Eitelkeit in die gewünschte Richtung zu manövrieren. Selbst als Brunetti endlich einen Verdächtigen gefunden hat, ist es nahezu unmöglich, diesem etwas nachzuweisen. Brunetti nutzt die Psychologie der männlichen Eitelkeit und Arroganz, das Bedürfnis und die Gewohnheit gewisser Männer, Frauen zu beeindrucken und zu umgarnen.
Auf der Suche nach Antworten bewegt sich Brunetti durch die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten Venedigs, durch die Salons der Palazzi und die halbverfallenen Mietshäuser in Santa Croce, durch ethische Untiefen und moralischen Morast. Wobei das Herbstwetter mit Aqua alta und monsunartigen Schauern ein passender Begleiter zu dem Elendstheater ist, das die Menschheit um ihn herum veranstaltet. Die Spur im Fall Manuela führt ihn schließlich zu einem Menschen, dessen Gleichgültigkeit und Chauvinismus so erschreckend sind wie das Schicksal Manuelas tragisch, zu einem Typus, den Brunettis Frau Paola bei den Männern einordnet, die alles zu wissen meinen.
"Davon gibt es einige. Alles, was eine Frau zu tun hat, ist, ihnen zuzuhören, interessiert auszusehen und gelegentlich zu nicken."
Übergreifendes Thema des Romans ist wie so oft bei Donna Leon die Familie. Es geht dabei um Schuldgefühle, Vernachlässigung, Scheitern und Zerfall einer Familie aus den höchsten Kreisen, mit einer egoistischen, unfähigen Mutter im Zentrum, einem Typus, dem man bei Donna Leon nicht selten begegnet. Parallel zu den Problemen in der Familie der Contessa muss Brunetti seiner Tochter Chiara in einer heiklen Angelegenheit helfen.
Daneben droht Brunetti beruflich Gefahr. Signorina Elettra, Sekretärin seines Vorgesetzten Vice Questore Patta, entdeckt, dass ein Unbekannter die E-Mail-Adresse des Innenministeriums gehackt hat, um in das Computer-System der venezianischen Polizei einzubrechen. Bald darauf erhält Patta eine mysteriöse Mail aus dem Innenministerium mit ungeheuerlichen Anschuldigungen hinsichtlich der illegalen Ermittlungsmethoden in der Questura. Der Absender der Mail ist gefälscht, die Anschuldigungen jedoch sind es nicht. Schon seit Jahren nutzt Brunetti die seltsamen Methoden von Signorina Elettra und ihrem ominösen Freund Giorgio, um in dem Sumpf aus Vertuschung, Lüge und Korruption an wichtige Informationen zu gelangen, oft das letzte Mittel der Wahl, um in einem festgefahrenen Fall weiterzukommen. Die beiden Konspiranten fürchten aufzufliegen.
Die Geschichte spielt sich im Rhythmus und unter den Gegebenheiten des heutigen Venedigs ab. Es geht um die Bewahrung historischer Gebäude und den Versuch, bezahlbaren Wohnraum für einheimische Familien zu schaffen, um das lukrative Geschäft mit schwarz vermieteten Hotelzimmern und Ferienwohnungen ausgerechnet durch städtische Beamte, um Rassismus und die neuen Migranten aus Afrika, die sich deutlich von den senegalesischen vu cumprà unterscheiden, die assimiliert sind, für die Mafia arbeiten und Fake-Taschen verkaufen, um den Überfall auf einen Touristen zu nächtlicher Stunde und einen toten Touristen, um das MOSE-Projekt, bei dem mit Metallbarrieren die Lagune vor den Gefahren der ansteigenden Fluten geschützt werden sollen, eine Sache mit üblem Geruch. Seit drei Jahrzehnten kommt die Sache nicht voran, weil die immensen EU-Fördergelder in die Wahlkampfkassen und Privatschatullen von Politikern und Vertretern der obersten Bürokratie fließen.
Venedig ist in den vergangenen vierundzwanzig Jahren seit Erscheinen des ersten Brunetti-Romans Venezianisches Finale einem steten Wandel unterlegen, an dem Donna Leon den Leser teilhaben lässt. Die Stadt hat sich über die Zeit verändert, jeder Roman greift ein neues, hochaktuelles Problem auf. Die Figuren hingegen verändern sich nicht, bleiben dem Leser vertraut und altern kaum. Sohn Raffi studiert immer noch, Tochter Chiara besucht die Schule, Ehefrau Paola lehrt englischsprachige Literatur an der Universität, ihr Liebling ist nach wie vor Henry James, Sekretärin Elettra liebt Designermode, prächtige Blumen und ihren Laptop, Patta ist unerträglich eitel. Überraschendes erfährt Brunetti und damit der Leser über Kommissarin Griffoni, deren Fähigkeiten bei den Ermittlungen von großem Nutzen sind.
Brunettis Mittel zum Ertragen der hässlichen Seite des Lebens sind die Familie, die Architektur Venedigs und die Klassiker der Antike. Diesmal befasst er sich mit "Argonautica" von Apollonius von Rhodos, der ihm ein Maß für Menschlichkeit vermittelt: Liebe übertrumpft Prinzip.
Ewige Jugend ist ein intelligenter, leiser Roman über das tragische Schicksal einer wunderschönen Frau und die hässliche Niedertracht eines kleinen Mannes, tiefgründig und empathisch, stark in den Dialogen und der Psychologie.
Donna Leon, Diogenes
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