Götter der Schuld
- Droemer
- Erschienen: Januar 2016
- 3
- Harrisonburg: Vision, 2013, Titel: 'The Gods of Guilt', Seiten: 387, Originalsprache
- München: Droemer, 2016, Seiten: 512, Übersetzt: Sepp Leeb
Das Recht als Drama - und Nebensache
Nachdem er als Kandidat für das Amt des District Attorny von LA County eine spektakuläre Niederlage hinnehmen musste, backt Mickey Haller wieder kleine Brötchen als Verteidiger. Der mit allen Wassern gewaschene und auch vor legal fragwürdigen Tricks nicht zurückscheuende "Lincoln Lawyer", der nach wie vor seine Geschäfte vom Rücksitz einer Luxuslimousine abwickelt, übernimmt gut bezahlt auch scheinbar hoffnungsvolle Fälle wie diesen: "Programmierer" und Teilzeit-Zuhälter Andre La Cosse soll im Zorn die Prostituierte Giselle Dallinger erdrosselt haben. Polizei und Staatsanwalt haben ihre Beweise, eine Verurteilung ist sicher, auch wenn La Cosse seine Unschuld behauptet.
Hallers Interesse an dem Fall erwacht, als sich herausstellt, dass er "Giselle Dallinger" unter dem Namen "Gloria Dayton" kennt. Vor Jahren hatte er sie mehrfach vor Gericht vertreten und ihr später, als sie angeblich aus dem Gewerbe aussteigen wollte, sogar eine große Geldsumme als Startkapital geschenkt. Doch Gloria Dayton hat Haller gelinkt; sie war heimlich nach Los Angeles zurückgekehrt und bot ihre Dienste als Webcam-Prostituierte an.
Haller und sein kleines Team ermitteln, dass Gloria vor Jahren von der Drogenvollzugsbehörde DEA zu Spitzeldiensten gezwungen wurde und im Auftrag eines ehrgeizigen Beamten womöglich dem Kartell-Killer Hector Moya Kokain untergeschoben hat. Hat dieser, der dafür lebenslang einsitzt, sich gerächt? Moya bestreitet es glaubhaft, zumal Haller weitere Spuren entdeckt, die auf ein Korruptions-Komplott hindeuten, das über die DEA hinausgeht. Damit begibt er sich auf dünnes Eis, denn die Verschwörer sind nicht nur anonym, sondern auch vorzüglich vernetzt und ausgerüstet. Dass er auf der richtigen Fährte ist, stellt Haller spätestens fest, als ein brutaler Mordanschlag auf ihn verübt wird ...
Die Illusion von Gerechtigkeit
"Recht" und "Gerechtigkeit" scheinen nicht nur vom Klang, sondern auch vom Inhalt zusammenzugehören. Die Realität sah und sieht allerdings anders aus - vor allem in den USA, wo das Glück bekanntlich mit dem Tüchtigen ist. Das bedeutet u. a., dass man sich vor den Folgen unrechten Tuns drücken kann, wenn man tüchtig genug war, dabei genug Geld zusammenzuraffen: In diesem Fall ist es möglich, sich einen Anwalt wie Mickey Haller zu leisten, der sein ganzes Geschick dareinsetzt, das Gesetz auf seine Lücken und seine Interpretationsdehnbarkeit zu prüfen, ohne sich über die Frage tatsächlicher Klienten-Schuld den Kopf zu zerbrechen.
Das Prozedere ist bekannt und wird oft und gern kritisiert. Ändern will offenbar niemand wirklich etwas, weshalb die Gefängnisse der Vereinigten Staaten gefüllt sind mit denen, die das Pech haben, sich begabte Rechtsverdreher überhaupt nicht (und "richtige" Anwälte ebenfalls nicht) leisten zu können. Sie müssen sich mit jenen Rechtsbeiständen zufriedengeben, die der Staat ihnen gratis zuweist. Um solche Stellen reißen sich ganz sicher nicht die begabten Juristen, was u. a. zur Folge hat, dass immer wieder Unglücksraben hinter Gittern schmachten oder gar hingerichtet werden, deren Unschuld sich eher zufällig herausstellt. Aber das ist halt das Risiko eines Lebens im Land der wirklich Freien!
Mickey Haller hält sich in diesem Haifischbecken nicht nur über Wasser, sondern fühlt sich pudelwohl darin. Autor Connelly deutet an, dass Haller - womöglich ohne dass es ihm selbst bewusst ist - süchtig nach einem Rausch ist, zu dem ihm (ausgerechnet) die Justiz verhilft: Ungeachtet beruflicher Probleme oder privater Querelen läuft er zur Höchstform auf, wenn er im Gerichtssaal steht und mit dem Richter, dem Staatsanwalt, den Geschworenen oder den Zeugen um die Deutungshoheit im aktuellen Fall ringt. Dabei ist es nicht zwangsläufig erforderlich, im Besitz überzeugender Beweise zu sein. Götter der Schuld beginnt mit einem typischen Haller-Fall, den der Anwalt mit einem keineswegs legalen Trick zu seinen Gunsten entscheidet. Dies geschah nicht zum ersten Mal, und kurz vor dem Finale wird Haller noch viel tiefer in die Trickkiste greifen.
Solange das Geld reicht
Nicht moralische Bedenken plagen ihn, sondern die Furcht, bei solchem Treiben erwischt zu werden. Dabei hat Haller schwer an unerwarteten Konsequenzen zu tragen: Nach seinem letzten, wiederum trickreich gewonnenen Prozess hat der freigekommene Klient im Suff zwei Menschen umgebracht. Seither herrscht Funkstille zwischen Haller und seiner abgöttisch geliebten Tochter, die sich dank ihrer Jugend noch nicht der Moral des erfolgreichen Mainstreams angepasst hat und dem Vater bittere Vorwürfe macht.
Statt daraus Konsequenzen zu ziehen, beschränkt sich Haller darauf, seine Tochter aus sicherer Entfernung zu stalken. Ansonsten bleibt er der windige "Lincoln Lawyer", der sich wie in seinem aktuellen Fall auch mit Goldbarren bezahlen lässt, deren Herkunft fragwürdig ist. Haller muss sich ohnehin nicht mit Fragen der Ethik plagen, da er einem Team vorsteht, das ganz auf seiner Linie denkt und handelt. Solange der Klient liquide ist, stürzen sie sich auf den Fall La Cosse, als ob ihr Leben davon abhinge - ein Haltung, die zumindest in einem Fall den Nagel auf (oder in) den Kopf trifft.
Lassen wir die Tatsache ruhen, dass Mickey Haller und seine Mitstreiter ungemein unsympathische Zeitgenossen sind, können wir uns an ihren Taten durchaus erfreuen. Michael Connelly ist ein Vollprofi, der seit vielen Jahren spannende Thriller auf hohem Niveau schreibt. Auch Götter der Schuld ist erst als "Whodunit" und dann als "Courthouse Drama" ungemein unterhaltsam. Die Seiten blättern sich wie von selbst um, wenn wir Haller und Co. dabei folgen, wie sie Indizien sichern oder neu bewerten, neuen Spuren folgen, zwar in Sackgassen tappen aber dabei Fehlerquellen eliminieren und systematisch dort Ergebnisse zutage fördern, wo mächtige Verschwörer auf ihre Weise ebenso trickreich das Gesetz beugen, um eigene Verbrechen zu tarnen.
Wenn das Jagdwild gestellt ist
Sehr klassisch zieht Connelly die losen Fäden zu einem Netz zusammen, in dem allmählich die tatsächlich Schuldigen zappeln. Der große Showdown findet nicht auf einer regennassen nächtlichen Straße, sondern vor den Schranken des Gerichts statt. Die Wahrheitsfindung entwickelt sich zum Drama, das entsprechend theatralisch zelebriert wird, um die Götter der Schuld zu beeinflussen: In der US-Justiz nehmen die Geschworenen eine dominante Position ein. Wenn sie nicht gar zu offensichtlich die Tatsachen ignorieren, wird der Richter ihr einstimmiges Urteil übernehmen.
Doch die Jury setzt sich aus Laien zusammen. Hier schwingt die Überzeugung mit, dass Recht vom Volk selbst gesprochen werden sollte, dem die Justiz beratend zur Seite steht. Dies ist das Feld für jene Schlachten, die sich Anklage und Verteidigung liefern, wobei deren Drastik in den Unterhaltungsmedien (hoffentlich) überspitzt wird. Dabei ignoriert Connelly übrigens keineswegs die verheerenden, vor allem gesundheitlichen Auswirkungen dieses für Haller so inspirierenden Dramas auf den Angeklagten La Cosse, der hilflos zwischen die Mühlsteine einer Justiz geraten ist, die für ihn nur eine passive Rolle vorsieht: Dem Autor ist der Zwiespalt zwischen Recht und Gerechtigkeit durchaus bewusst.
Interessanterweise sieht Connelly die Problematik jedoch primär an anderer Stelle: Spätestens seit Nine-Eleven haben sich jene US-Behörden, die nach Terroristen aller Art fahnden, wie Giftpilze vermehrt. Ihre Arbeit bleibt zum Schutz ihrer Mitglieder oft geheim. Hinter diesem Schild sind diese gleichzeitig der normalen' Rechtsprechung entzogen. Ein isolierter, in sich ruhender, sich selbst regierender Sub-Kosmos ist entstanden, dessen Angehörige jene, die dies kritisieren, zu "Staatsfeinden" erklären und verfolgen können. Wie dies perfide und perfekt durchexerziert werden kann, spielt Connelly konsequent durch. Nicht nur La Cosse, sondern auch Haller und alle, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen oder ihm privat nahestehen, geraten in diesen Sog.
Einerseits rund, andererseits offen
Die daraus resultierenden Aktionen sind an sich bekannt und oft sogar zum Klischee heruntergekommen. Connelly schnürt daraus ein Plot-Bündel, das er anschließend mit der Routine des wahren Handwerksmeisters entwirrt und dessen Fäden er bis zum weniger durch Action-Dramatik als durch Konsequenz bestimmten Finale fest in der Schreibhand hält.
Wieder einmal ist positiv anzumerken, dass Connelly dabei den Privatmann Haller mit seinen persönlichen Problemen keineswegs ausklammert, ihn aber nie aufdringlich in den Vordergrund schiebt: Götter der Schuld ist ganz sicher kein "Chick-Lit"-Krimi. Der Fall steht klassisch im Zentrum - (leider) fast schon eine Ausnahme in einer Ära sulzig aufgeschwemmter Gefühlsduseligkeiten. So kann und so wird es weitergehen - der sechste Haller-Roman liegt im Original bereits vor.
Michael Connelly, Droemer
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