Ruhe sanft, mein Kind

  • Bastei Lübbe
  • Erschienen: Januar 2015
  • 3
  • Houghton: Moth, 2013, Titel: 'Stolen', Originalsprache
  • Köln: Bastei Lübbe, 2015, Seiten: 416, Übersetzt: Ariane Böckler
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Sabine Bongenberg
70°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2015

Gänsehauterzeugend nur bei Lektüre im Freien

Laut der Internet-Enyklopädie "Wikipedia" zeichnet sich ein "Thriller" durch das Erzeugen einer Spannung (eines "Thrills") aus, die nicht nur in kurzen Passagen, sondern während des gesamten Handlungsverlaufs präsent ist. Damit wird beim Leser ein beständiges Spiel zwischen Anspannung und Erleichterung erzeugt. Werden die Figuren und deren Psyche stark betont, spricht man von einem "Psychothriller". Die Frage der Spannung bleibt aber die gleiche.

Natürlich kann sich jetzt der Leser fragen, warum diese Buchbesprechung mit einem mehr oder weniger trockenen Vortrag zur Art und Weise eines Psychothrillers beginnt. Der Leser kann sich aber genauso gut fragen, warum Muddimans neuestes Werk unter der Bezeichnung "Psychothriller" firmiert.

Grundsätzlich sind einmal alle wichtigen Zutaten für ein spannendes Werk versammelt. Da sind die beiden jungen Eltern Abby und Paul, deren Leben – ohne dem Himmel auf Erden zu gleichen – sicherlich ohne größere Dramen seinen Lauf nimmt. Bis zu diesem einen Tag, an dem Abby überfallen, aus ihrem Auto gezerrt, verschleppt und vergewaltigt wird. Als sie nach diesem Martyrium zu ihrem Fahrzeug zurückkommt, ist ihr Baby Beth, das ebenfalls im Fahrzeug war, spurlos verschwunden. Sicherlich muss hier nicht betont werden, dass ein derartiges Erlebnis den Begriff des "Albtraums" für die betroffenen Personen weit übersteigt. Dennoch fragt sich der Leser mit fortschreitender Lektüre, warum sich dieses Gefühl des Schocks, der Ratlosigkeit, der Verzweiflung nicht übertragen kann.

Hier wären wir auch schon beim größten Manko von Muddimans Krimi: Die handelnden Personen werden nicht glaubhaft vermittelt. Zwar trägt jede Einzelne von ihnen ihr besonderes Schicksal, ihre persönlichen Verstrickungen mit sich, dennoch – das Gefühl eines tatsächlichen Erlebens oder einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit den persönlichen Dramen fehlt. Besonders deutlich zeigt sich dieser Mangel an der Person der Abby: Auf den ersten Blick handelt es sich um eine normale, fröhliche Ehefrau, die mit Mann und Kind ihr persönliches Glück gefunden hat. Dass dieses Glück eigentlich auf einer Täuschung beruht und mit einem hohen Preis gezahlt wird, das wird dem Leser im Laufe der Handlung klar. Unklar bleibt aber, aus welchen Motiven diese Handlungen erwuchsen, was eigentlich zum Vertrauensbruch führte. Abby ist dann auch diejenige, die am härtesten vom Schicksal gebeutelt wurde. Sie wird aus dem Auto gerissen, misshandelt, verschleppt und vergewaltigt. Allein eine dieser Taten dürfte bei Verbrechensopfern schon ein veritables Trauma auslösen. Nach der Entführung ihres Kindes wird dieser "Vorspann" jedoch fast nicht mehr erwähnt, eine Reaktion Abbies auf das Erlebte fehlt ganz. Hier fragt sich der Leser aber, ob eine derartige Reaktion tatsächlich glaubhaft ist: Werden derartige Gewalterlebnisse und Demütigungen komplett durch ein größeres Verbrechen verdrängt? Kann sich eine Person, die so etwas erfahren hat, anschließend nur um das Wohl ihres Kindes sorgen? Sicherlich ist die Liebe einer Mutter ein sehr starker Motor, dennoch ist hier die Frage gestattet, ob dieser Motor auch bei massiven körperlichen und seelischen Verletzungen weiter funktionieren kann.

Unklar bleiben auch generell die persönlichen Motive: Was band Paul und Abby in erster Linie aneinander bzw. welche Emotionen bestanden gegenüber anderen Personen und wie kamen diese zustande? Kann ein Betrug in einer stabilen Beziehung überwunden werden und wenn nicht, welche Punkte sprechen dagegen? Wünschenswert wäre gewesen, diesen Fragen eine Bühne zu geben. Sicherlich kann hier eingeräumt werden, dass ihre Beantwortung nicht zu der Theorie des Psychothrillers gehören. Dennoch kann ein Leser nur mit Personen mit-leiden, mit denen er sich identifizieren kann oder deren Motive er verstehen oder zumindest nachvollziehen kann. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, bleibt das Mitempfinden und damit auch die Spannung auf der Strecke.

Fragen bleiben auch zur generellen Konstruktion der Handlung. Eine wäre beispielsweise, ob das Buch das Format einer Kurzgeschichte überschritten hätte, wenn die Polizei nicht die Arbeit des Täters durch einen groben Ermittlungsfehler regelrecht unterstützt hätte. Nicht nachvollziehbar bleiben auch die Hinweise, die zur eigentlichen Aufklärung des Verbrechens beitrugen. Versendet jemand, der begangenes Unrecht wieder gutmachen will, mysteriöse Hinweise, wenn nicht ein einfaches anonymes Schreiben an den namentlich bekannten Ermittler ausgereicht hätte? Vollkommen überflüssig ist auch ein Nebenstrang, der erneut an das ursprüngliche Verbrechen erinnert und mögliche Parallelen aufweist. Er wird mehr als lieblos abgehandelt und bildet eine Randerscheinung, deren Fehlen kaum bemerkt worden wäre.

Rebecca Muddiman verfolgte mit ihrer Geschichte eine interessante Idee, die spannenden Stoff für einen guten Krimi möglicherweise auch für einen spannenden Thriller geboten hätte. Dennoch – Romanfiguren, denen keine Seele eingehaucht wurde, können nicht begeistern, anrühren oder beunruhigen. Dazu fehlt die Tiefe, die den Leser mitempfinden lässt. Daran kann auch ein dramatisches Vorwort über Gefühle beim Verlust des wichtigsten Teils im Leben nichts ändern. Das titelgebende Kind mag sanft geruht haben, die Spannung tat es ihm leider gleich.

Ruhe sanft, mein Kind

Rebecca Muddiman, Bastei Lübbe

Ruhe sanft, mein Kind

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