In der Finsternis
- Osterwold
- Erschienen: Januar 2015
- 6
- Mailand: Mondadori, 2014, Titel: 'Uccidi il padre', Originalsprache
- Berlin: Osterwold, 2015, Übersetzt: Jürgen Holdorf
Seltsames Ermittler-Duo kämpft gegen finsteren Verbrecher
Ein merkwürdiger Fall beschäftigt die römische Polizei. Zwei Streifen-Polizisten greifen an einer Landstraße einen verwirrten und dehydrierten Man auf, der berichtet, bei einem Picknick seine Frau und seinen Sohn verloren zu haben. Er selbst will nach dem Essen eingeschlafen sein, als er wieder erwachte, waren beide verschwunden. Die Polizei lässt mit großem Aufgebot die Umgebung absuchen, die Frau wird ermordet aufgefunden, von dem Jungen fehlt jede Spur. Der Mann wird sofort verdächtigt, selbst der Täter zu sein, und in Untersuchungshaft genommen. Die wegen eines im Dienst erlittenen schweren Traumas beurlaubte Colomba Caselli wird von ihrem Vorgesetzten Rovere zum Tatort geholt. Der erfahrene Ermittler glaubt offenbar nicht daran, dass der Vater der Täter ist, sondern sieht Parallelen zu einem anderen Fall, bei dem ebenfalls ein kleiner Junge verschwunden ist. Damals wurde der Entführte elf Jahre lang im Silo eines Bauernhofes gefangen gehalten, bevor er entkommen konnte. Dante Torre, so der Name des damaligen Opfers, kann im Verhalten und den Gebärden von Menschen "lesen", und wird Colomba an die Seite gestellt. Auf Roveres Drängen hin ermittelt das seltsame Duo in diesem Fall – und gerät von einem Alptraum in den nächsten, bis es gegen alle Widerstände in einem dramatischen Finale den Täter findet.
Ein beeindruckender Protagonist
Der versierte Drehbuchautor Sandrone Dazieri hat mit seinem aktuellen Kriminalroman einen echten Treffer gelandet. Im einleitenden Kurzabschnitt – eigentlich ein Prolog, der allerdings nicht so betitelt ist – bekommt der Leser einen Eindruck von der grausigen Kindheit des Dante Torre. Der junge Mann, in der Gegenwart als eine Art Profiler tätig, wurde im Alter von sechs Jahren entführt, und anschließend elf Jahre lang gefangen gehalten, nahezu die komplette Zeit verbrachte er in einem Getreidesilo. Von der Außenwelt völlig isoliert wurde er von seinem Bewacher erzogen, den er Vater nennen musste. Fehlverhalten wurde sofort hart sanktioniert, daher lernte Torre – der Not gehorchend – in den Gebärden und Verhaltensweisen seines Peinigers zu "lesen". Aus der Gefangenschaft hat der junge Mann tiefe seelische Narben behalten, die ihn für ein normales Sozialverhalten völlig disqualifizieren, aber seine Sonderbegabung macht ihn eben zu einem – für Polizei und Staatsanwaltschaft zuweilen unentbehrlichen – Helfer bei der Aufklärung von Verbrechen. Ein Protagonist wie Dante Torre ist mir bei der Lektüre von Kriminalromanen noch nicht begegnet, ich muss zugeben, von dieser Figur tief beeindruckt zu sein.
Geschichte und Ermittler-Duo faszinieren
Nicht minder faszinierend finde ich CC, wie Dante Torre seine Partnerin in den rasanten Ermittlungen nennt. Colomba Caselli hat ebenfalls ein Trauma zu bewältigen, das allerdings nicht Jahre, sondern nur wenige schicksalhafte Minuten gedauert hat. Sie war als Beobachterin bei einem Einsatz der französischen Polizei gegen einen gesuchten Italiener dabei. Die Umstände der damaligen Bombenexplosion, deren Folgen zur Beurlaubung von CC geführt haben, werden in kleinen Zwischenkapiteln geschildert. Im Grunde ist die junge Polizistin noch lange nicht wieder dienstfähig, aber im Laufe der Handlung erfahren Leser und Protagonisten, warum ihr Vorgesetzter sie zu den außergewöhnlichen Ermittlungen gedrängt hat. Neben der ganzen - schier unglaublichen - Geschichte macht das seltsame Ermittler-Duo die enorme Faszination dieses Buches aus.
Viel Potenzial für weitere Geschichten
Colomba und Dante stoßen bei ihren Nachforschungen auf ein offenbar geheimes Programm. Militär und Staatsapparat sind an den Machenschaften irgendwie beteiligt – mehr werde ich hier nicht verraten. Das Duo gerät schnell in den Fokus seiner Gegner, die eine blutige Spur hinter sich ziehen. Auch ihren Kollegen kann die junge Polizistin bald nicht mehr vertrauen, denn es gibt offenbar Verbindungen zu den Drahtziehern der Entführungen. In vielerlei Hinsicht also ein Plot, der es wirklich in sich hat. Sandrone Dazieri hat vor diesem Roman erfolgreich Drehbücher verfasst, was man dem Buch zuweilen anmerkt – allerdings in meinen Augen ausschließlich im positiven Sinne. Die raschen Wendungen, die immer neuen Überraschungen, die falschen Spuren und Vermutungen – der Autor hat einen Thriller vorgelegt, der diese Bezeichnung wirklich verdient. Zudem schafft Dazieri es, den Leser im Finale noch einmal kräftig zu verblüffen. Das Buch bietet also eine unterhaltsame und fesselnde Lektüre – und ein Ermittlerduo mit jeder Menge Potenzial für weitere Geschichten.
Sandrone Dazieri, Osterwold
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