True Crime
- GoyaLiT
- Erschienen: Januar 2015
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- Dublin: The O'Brien Press, 2003, Titel: 'On the Brinks', Originalsprache
- Hamburg: GoyaLiT, 2015, Seiten: 4, Übersetzt: Bernd Stephan
Preisgekrönte, lesenswerte Biografie erscheint endlich bei uns
Am 10. Januar 1955 wird Samuel Ignatius Millar geboren. Was folgt ist ein atemberaubendes Leben, welches Millar - heute ein erfolgreicher Schriftsteller - über viele Jahre in mehrere Gefängnisse führt. Zunächst durchlebt er eine schwere Kindheit, denn der Vater arbeitet bei der Handelsmarine und ist oft lange Zeit auf See; die Mutter, mit dem Alleinsein überfordert, flüchtet in den Alkohol und lebt überwiegend von Rabattmarken und Lebensmittelgutscheinen. Bereits der Großvater ist ein interessanter Mensch; Protestant und führendes Mitglied im Oranierorden, heiratet eine strenggläubige Katholikin und verspricht vor der Hochzeit, die Kinder in deren Glauben zu erziehen. So wächst Sam Millar als Katholik mit protestantischen Wurzeln in Belfast auf und erlebt als Jugendlicher die Ereignisse des 30. Januar 1972 in Derry hautnah, welche als "Blutsonntag" in die Geschichte eingingen. Die britische Miliz schoss dreizehn Demonstranten nieder, spätere Verurteilungen gab es keine.
"Ich hab gedacht, es wäre toll, die Schule endlich von der Backe zu haben und Geld zu verdienen. Und jetzt dieser Albtraum im Schlachthof."
"Wenigstens musst du keine Angst mehr haben, dass dich ein sadistischer Lehrer windelweich prügelt, nur weil du ein paar Minuten zu spät gekommen bist."
"Nein, dafür habe ich jetzt Angst davor, von den Loyalisten zusammengeschlagen zu werden."
Erste Jobversuche bringen ein bisschen Geld, doch spätestens als ein ehemaliger Schulfreund erschossen wird, sympathisiert Millar offen mit einem militanten Republikanismus. Schon bald wird er unter denkwürdigen Umständen in die Haftanstalt Crumlin Road eingewiesen, da er einer illegalen Organisation namens IRA angehöre. Später landet er wegen Waffen- und Sprengstoffbesitzes - ohne ein Gerichtsverfahren, welches diesen Namen verdient hätte - für mehrere Jahre im legendären Gefängnis Long Kech, wo er nach einem spektakulären Aufstand in den berüchtigten H-Blocks untergebracht wird.
"Wenn die Schießereien aufhören und die Toten begraben sind, kommen die Politiker wieder ans Ruder, dann stellt sich heraus, dass alles eine verlorene Sache war." (aus Die gefürchteten Vier)
Da er sich weigert seine Verurteilung anzuerkennen und sich nicht den Regeln des Gefängnisses beugen will, lebt er jahrelang unter schlimmsten Bedingungen, die den Leser fassungslos zurücklassen. Nach Holocaust und Gulag hätte man solche Dinge in einem (west-)europäischen Gefängnis nicht mehr erwartet. Schonungslos berichtet der "Blanket-Men" über jahrelange Folter und Misshandlungen, die er nackt (zur Wiederholung: jahrelang) in seiner kleinen Zelle hausend über sich ergehen lassen muss.
Von Belfast nach New York, von einem Gefängnis zum nächsten.
Nach seiner Freilassung führt ihn sein Weg - im zweiten Teil des Buches - unter falschem Namen nach New York, wo er zunächst in einem illegalen Casino arbeitet. Er gründet eine Familie, hat drei Kinder und plant den großen Coup: Einen Überfall auf Brink's, die älteste und größte Firma für gesicherte Geld- und Warentransporte. Es soll der spektakulärste Überfall in der amerikanischen Geschichte werden mit einer Beute von mehreren Millionen Dollar. Millar und drei weitere Menschen werden Monate später verhaftet, doch letztlich gilt der Fall bis heute als teilweise ungeklärt. Interessant ist zu lesen, wie sich die Verfahren vor Gericht sowie die Haftbedingungen in Belfast und Amerika unterscheiden. Obwohl die Methoden des FBI alles andere als zimperlich sind, können sie mit den Torturen ihrer "Kollegen" von Long Kech nicht mithalten.
Wer sich für die Geschichte Irlands in den 1970er/80er Jahren interessiert, sollte diesen mehrfach ausgezeichneten True-Crime-Roman lesen, wenngleich man zumindest für die erste Hälfte starke Nerven braucht. Dabei wird es vermutlich das größte Geheimnis bleiben, warum erst heute, im Jahr 2015, eine deutsche Übersetzung vorliegt. Das Original "On The Brinks" erschien bereits 2003.
"Wenig später meldete sich Warner Brothers und erwarb die Filmrechte, machte aber sofort einen Rückzieher, als die Regierung Bush nach dem schrecklichen Anschlag vom 11. September mit der Begründung Druck ausübte, das Buch würde "den Terrorismus verherrlichen". George W. Bush hatte, wie sich später herausstellte, das Buch gar nicht gelesen – vermutlich weil nur Worte darin vorkamen, keine Bilder. Aber, wie der legendäre Privatermittler Karl Kane sagen würde, es gibt immer einen nächsten Tag, sofern es einem gelingt, diesen zu überleben."
Über den Überfall bei Brink's erfährt man (natürlich) nicht alles, dafür wird der spätere Prozess ausführlich geschildert. So ergeben sich interessante Einblicke in das amerikanische Rechtssystem, über das man sich einmal mehr wundern darf. Allein, dass es mitunter etwas zu sprunghaft-abgehackt hergeht, schmälert geringfügig den durchweg positiven Gesamteindruck.
Sam Millar, GoyaLiT
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