Der rosenrote Schirm
- Alfred Scherz
- Erschienen: Januar 1955
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- Philadelphia: J. B. Lippincott, 1943, Titel: 'The Pink Umbrella', Seiten: 252, Originalsprache
- Bern: Alfred Scherz, 1955, Seiten: 192, Übersetzt: Renate Hertenstein
- Frankfurt am Main: Fischer, 2017, Seiten: 192
Eine schrecklich tödliche Familie
Bevor er seinen Dienst in der US-Kriegsmarine antritt - wir schreiben das Jahr 1943 -, möchten der Privatdetektiv Patrick Abbott und Gattin Jean aus San Francisco letzte gemeinsame Urlaubstage in New York verbringen. Zu ihrem Ärger laufen sie einer alten Verehrerin Patricks über den Weg: Ellen Bland lebte mit ihrer Familie lange in Frankreich, ist jedoch vor dem Krieg zurück in die USA geflüchtet. Eigentlich ist sie vom egoistischen und ehebrecherischen Louis längst geschieden, doch wurde ihm vor Gericht das Sorgerecht für die Kinder Susan und Richard zugesprochen. Außerdem besitzt Louis das Geld und kann seine Familie deshalb weiterhin gängeln.
Vater, Mutter und Kinder gehen einander nach Kräften auf die Nerven. Dabei hat Louis in Mary Kent längst eine neue Lebensgefährtin gefunden, und auch Ellen ist nicht allein, sondern nicht gerade heimlich mit dem Unternehmer Henry Rawlings zusammen. Um Ellen und die Kinder zu kontrollieren, hat Louis sie im alten Haus seiner Mutter untergebracht, wo in den Zeiten seiner Abwesenheit Anna Forbes, die gallebittere Haushälterin, die Ohren für ihn offenhält.
Patrick und Jean sind zufällig anwesend, als Anna eines Abends vom Balkon stürzt. Leutnant Dorn von der Mordkommission ist misstrauisch und behält Recht: Anna wurde mit dem Rahmen eines Bildes namens Der rosarote Schirm niedergeschlagen und aus dem Fenster geworfen. Alle Familienmitglieder sind verdächtig; zu ihnen gesellen sich die ständig anwesenden Hausfreunde Clint Morgan - Louis' Vetter -, Mary Kent und Daphne Garnett. Henry Rawlings wandert ganz oben auf Dorns Liste, als dessen Sekretärin ermordet aufgefunden wird - am Tatort liegt wie bei Anna Forbes eine mit Schlangengift gefüllte aber unbenützte Injektionsspritze. Da auch Ellen in Verdacht gerät, beginnt Patrick wohl oder übel mit eigenen Recherchen, bei denen ihn Jean nach Kräften und manchmal sogar mit Erfolg unterstützt ...
Der Krimi & die grau(sam)e Realität
Sie stehen in keinem geistig nachvollziehbaren Zusammenhang: die Freuden des Rätselkrimis und die Schrecken des (Zweiten) Weltkriegs. Es ist daher kein Wunder, dass die Ära des klassischen "Whodunit" nach 1939 zu Ende ging. Das Genre selbst überlebte und erlebte auch nach Kriegsende viele berühmte und erfolgreiche Neu-Titel - zu groß war die Sehnsucht nach dem Mord, der sich als edle Kunst und nicht als banale Menschenvernichtung betrachten ließ.
Die Töne wurden nichtsdestotrotz rauer und realistischer. Zwar fand der "Hard-Boiled-Detective" schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg sein Publikum, doch erst jetzt zog er endgültig an seinem distinguierten, gern aus dem bequemen Sessel das Verbrechen intellektuell durchspielenden Vorgänger vorüber - dies buchstäblich, denn schnelle Autos und schwere Waffen gehörten zum Handwerkszeug des ‚neuen' Ermittlers.
Das Planspiel mit dem Mord nahm bittere Züge an. Der Tod war in der Regel eine hässliche Sache. Dies hatte der Krieg gelehrt, der auch die Überlebenden zeichnete. Mit der "Schwarzen Serie" wurde der Mord zum Auslöser oder Produkt absonderlicher Obsessionen, die sich leicht zum Wahnsinn steigern konnten. In diesem Mikrokosmos stetig drohenden Verderbens war kein Platz mehr für den genialen, gefühlskargen, verspielten Detektiv.
Glücklicherweise waren und sind Genregrenzen eher Hilfslinien und nicht in Stein gehauen. Die unterschiedlichen Spielarten des Kriminalromans können miteinander kombiniert werden. Wird es richtig gemacht, vergrößert sich die Zahl der potenziellen Leser beträchtlich, da sich die Anhänger beider oder sogar mehrerer Krimi-Welten locken lassen.
Modern mit Maßen
Frances Crane kalkulierte sorgfältig, als sie Anfang der 1940er Jahre daran ging, sich auf dem Krimi-Markt zu etablieren. Sie hatte vor dem Krieg als Autorin viel Erfolg mit den damals in den USA beliebten, sanften Satiren auf die steifen, altmodischen Briten gehabt. Diese Welt war zwar untergegangen, aber die nostalgische Sehnsucht nach einer einfacheren, "besseren" Vergangenheit ließ sich bei behutsamer Dosierung anderweitig nutzen.
Mit den ganz harten Jungs hatte Crane ebenso wenig am Hut wie mit den überlebensgroßen Femmes fatales, die allzu selbstbewusst und selbstbestimmt die Männer eher vereinnahmten und zerbrachen, als sich an ihre Seite bzw. ein, zwei Schritte hinter sie zu stellen. Jean Abbott selbst war keine Detektivin sein. Sie musste sich mit der Rolle einer Watson begnügen, durfte die Ereignisse miterleben, kommentieren und sich dabei selbst maßvoll detektivisch einbringen: Mit diesem Frauenbild konnte die moralische Mehrheit ihrer Epoche leben.
Crane, die selbst das Ruder ihres Lebens deutlich fester in den Händen hielt, akzeptierte als Profi um der Honorare willen die Einschränkungen, zu denen sie dieses Umfeld zwang:
"Nach dem Frühstück ging Patrick zum Polizeihauptquartier, um sich mit einigen neuen technischen Verbesserungen vertraut zu machen, und ich ging auf die Suche nach einem neuen Hut."
So lautet der erste Satz von Kapitel 3, und er gibt die Konstellation deutlicher vor, als es vor allem der Leserin von heute lieb sein kann.
Altes Geld gegen neue Freiheit
Dabei kann Jean Abbott froh sein. Sie gehört einer neuen Generation an, die sich nicht mehr der Familie unterjochen muss, sondern echte Freiheiten genießt. Dafür verzichtet sie auf Privilegien, die sich längst in (goldene) Fesseln verwandelt haben: Ellen Bland hat in eine der prominenten Familien New Yorks eingeheiratet. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. ‚Man' arbeitet selbstverständlich nicht, sondern besitzt Geld einfach und repräsentiert sich selbst als Maßstab gesellschaftlicher Elite.
Hinter dieser Fassade geht es bei den Blands freilich nicht friedlicher zu als in jeder anderen heillos zerstrittenen Familie. Wer das Geld hat, bestimmt die Musik, nach der die weniger Glücklichen tanzen müssen. Hier ist es Louis Bland, der seiner Kontrollsucht problemlos Ausdruck verleihen kann. Sohn und Tochter und selbst die Ex-Gattin fügen sich seinen Launen. Sie sichern sich damit ein luxuriöses Dach über den Köpfen und Taschengeld. Damit stehen sie nur marginal besser da als jene ‚Hausfreunde', die sich bei Louis durchschnorren und seinen Hofstaat vergrößern.
An einen Ausbruch denken die Schönen & Reichen = Ängstlichen & Faulen nicht. Zwar äußert Sohn Richard einmal schüchtern das Begehren, sich als Soldat für sein Land nützlich zu machen, doch solche pöbelhaften Ambitionen erstickt Louis im Keim: Man kämpft für die Blands - notfalls bezahlt -, aber die Blands liegen nie selbst im Frontdreck! Ganz anders denken die "modernen" Abbotts. Patrick nutzt die Gelegenheit, sich zwischen zwei Mordfällen freiwillig zum Kriegsdienst zu melden, und Jean eignet sich die Grundlagen der Buchführung an, um an der Heimatfront zu dienen. Die Zeit ist um für die Blands dieser Welt, die in ihrer selbstgewählten Isolation förmlich im eigenen Saft schmoren und viel (zu viel) Zeit haben, alte Animositäten zu pflegen.
Ein wenig zu lange auf dem Nerv gebohrt
Aus dieser Situation entwickelt Crane die Kriminalhandlung, denn selbstverständlich ist vornehm zu tun nicht das gleiche wie vornehm zu sein. Das kriminelle Problem wird von den Blands anfänglich gar nicht verstanden, da es doch ‚nur' eine alte und unbeliebte Bedienstete erwischt hat, die sich leicht ersetzen ließe. Doch auch die Tage, als sich die Polizei noch am Hintereingang melden musste, sind vorüber.
Leutnant Dorn ist nicht nur selbstbewusst, sondern sogar dreist, seine Ermittlungen sind alles andere als unauffällig: Er schickt den Blands eine als Hausmädchen verkleidete Polizistin ins Haus und lässt sogar die Abbotts beschatten. Dorn interessiert weniger die Wahrheit als der gelöste Fall, weshalb sich Pat Abbott quasi einmischen muss, bevor Verhaftung und Verurteilung denjenigen Pechvogel treffen, an dem Dorn die Mehrheit der passend gemachten Indizien festmachen kann.
Auch das Motiv, das hinter sich häufenden Morden steckt, hängt mit dem Schein zusammen, der in feinen städtischen Kreisen vor dem Sein steht. Crane löst dieses Rätsel nicht gerade elegant auf. Bei genauer Betrachtung dürften weniger vernagelte Polizisten rasch hinter einen Plan gekommen sein, der durch die Sprunghaftigkeit des Mörders besser verborgen wird als durch die Logik der Ausführung.
Blabla plus Herzschmerz
Es wird viel geredet bis zur wiederum klassischen Zusammenkunft sämtlicher Verdächtiger im großen Finale. Natürlich - so muss man wohl sagen - gibt es eine unglückliche Liebesbeziehung, die gekittet wird, und am Ende sogar eine Doppel-Hochzeit. Auch Jean Abbott trägt ihren Teil zu einem "Lady-Thriller"-Ambiente bei, das man nicht vermissen würde, zumal ausgerechnet die Hauptfiguren ungewöhnlich profilarm sind.
Pat Abbott, der offenbar älter und "vernünftiger" als seine Gattin ist, hält aus gutem Grund meist den Mund, statt seine Jean einzuweihen, die den ihren nie halten kann und garantiert etwas Dummes anstellt, sich in Lebensgefahr bringt oder anderweitig Seiten so schindet, dass die Körpertemperatur entsprechend gepolter Leserinnen vor Aufregung um mindestens 0,5° ansteigt.
Genau diese Beliebigkeit dürfte mit ein Grund für den Erfolg der Abbott-Serie gewesen sein. Sie besitzt keine echte Reihenfolge, die Figuren entwickeln sich kaum. Jede/r Leser/in ist auch nach Überspringen einiger Bände problemlos wieder ‚drin'. Frances Crane ist keine Meisterin des Kriminalromans. Als gute Handwerkerin konnte sie sich jedoch viele Jahre gut auf dem Markt halten. Heute sind ihre Krimis altmodisch. Die Machart - Verbrechen plus Liebe - hat sich halten können.
Frances Crane, Alfred Scherz
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