Ruhige Wohnung mit eigener Leiche

  • Tal Verlag
  • Erschienen: Januar 1938
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  • London: Faber & Faber, 1937, Titel: 'Tenant for Death', Seiten: 307, Originalsprache
  • Wien, Leipzig: Tal Verlag, 1938, Titel: 'Untermieter des Todes', Seiten: 212, Übersetzt: Karl Häuser
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1964, Seiten: 159, Übersetzt: Barbara Heukenkamp
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2014

Eine Maske macht sich selbstständig

Daylesford Gardens ist ein Wohnviertel im Südwesten der Großstadt London. Hier führen Ruheständler mit überschaubaren Einkommen ein genügsames Leben. Man kennt sich, und Jackie Rush, der seinen Zeitungsstand am Rand des Viertels aufgeschlagen hat, kennt sie alle - bis auf Colin James, der sich für einige Wochen in einer der Wohnungen eingemietet hat, um unbekannten Geschäften nachzugehen. Sein Rauschebart und sein enormer Wanst machen James leicht erkennbar, sodass Rush sich gut daran erinnern kann, ihn im Gespräch mit einem Gentleman die Wohnung betreten gesehen zu haben, die er später allein verließ.

Der Gentleman blieb zurück; man findet ihn später dort - erdrosselt mit einer Vorhangschnur. Der Mord ist Sensation und Skandal zugleich, denn gestorben ist Lionel Ballantine, eine schillernde Gestalt der Londoner Börsenszene. Schon vor Jahren wurde er unredlicher Praktiken bezichtigt, konnte sich aber herauswinden. Aktuell stand er vor der Pleite. Wurde Ballantine umgebracht, bevor er wie offenbar geplant nach Frankreich flüchten konnte?

Inspektor Mallett von Scotland Yard übernimmt den Fall. Rasch stellt sich heraus, dass "Colin James" ein Phantom bzw. eine Kunstfigur ist: Niemand kennt sein Gesicht hinter dem Bart, der womöglich falsch war. Jedenfalls ist "James" spurlos verschwunden. Zurück bleiben diverse Verdächtige. Da ist vor allem John Fanshare, einst angesehener Banker, bis Ballatine ihn in krumme Geschäfte verwickelte, für die Fanshare im Gefängnis landete. Ruiniert und ehrlos hat er Ballantine zur Rede gestellt und mit ihm gestritten.

Ebenfalls von der Polizei unter die Lupe genommen wird Frank Harper, dessen Familie ihr Vermögen durch Ballantine verlor und der sich nun als Angestellter genau derjenigen Firma durchschlägt, die für die Verwaltung der Häuser in Daylesford Gardens zuständig ist. Außerdem verfügt der junge Mann neuerdings über viel Geld und will mit seiner Braut nach Afrika auswandern. Mallett muss sich deshalb sputen, doch die tatsächliche Auflösung dieses Falles stellt nicht nur für ihn eine echte Überraschung dar ...

Inspektor Malletts erster Fall

Auch die ganz Großen haben bekanntlich klein angefangen. Manchmal sind ihre frühen Bemühungen objektiv bescheiden, aber in der Regel lässt sich Talent nicht nur nachträglich auch dort identifizieren, wo es noch ungeschliffen auftritt. Cyril Hare gehört in beide Kategorien. Ruhige Wohnung mit eigener Leiche - der dämliche Titel fällt in eine Zeit, als deutsche Verlage Kriminalromane gern ‚witzig' betitelten, um Kunden zu fangen - ist ebenso unterhaltsam wie kompliziert; die Handlung kommt zu ihrer Auflösung, knirscht dabei jedoch manchmal unüberhörbar in ihrem Getriebe oder läuft sogar leer.

Noch hat sich Hare nicht seiner eigentlichen Stärke besonnen, die er in späteren Romanen geschickt ausspielte: Als praktizierender Jurist war er vertraut mit dem britischen Gesetz und seinen Fallschlingen bzw. Lücken. Sie dienten Hare als Katalysatoren für spannende Rätselkrimis, die er durch ausgezeichnete Figurenzeichnungen und einem sicheren Blick für Landschafts- und Situationsbeschreibungen in erlesene Unterhaltungslektüre verwandelte. Bereits in diesem ersten Roman bietet er ein humorvoll überspitztes (wenn auch sehr konservativ ausgerichtetes) Zeitbild von London kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Eindeutig zeugt Ruhige Wohnung mit eigener Leiche von Sachkenntnis und intensiver Recherche, die Hare u. a. in die Gefilde der zeitgenössischen Hochfinanz führte. Da es hier damals wie heute zwar vornehm aber oft kriminell zuging und große Pleiten das Interesse selbst nicht betroffener Bürger erregten, konnte Hare sicher sein, mit dem Mord an einem schurkischen Geldsack seine Leser zu finden. Dabei war Geld in dieser Zeit zumindest unter Gentlemen kein Thema. Man hatte es oder nicht, aber man sprach nicht darüber. Wichtiger war - nach Hare - die Wahrung des gesellschaftlichen Standes, die vor allem ungeschriebenen Regeln folgte.

Der Schein ist wichtiger als das Sein

Unter dieser Prämisse gewinnt das Geschehen einen interessanten Subtext: In einer Gemeinschaft, die der tradierten Ordnung den Vorrang gegenüber einer modernen Gleichberechtigung gibt, stellt "Colin James" womöglich die evolutionäre Endstufe dar: als Maske, die sich verselbstständigt hat. Mehr noch: "Die Tarnung überlebte ihre Träger", stellt Inspektor Mallett fest (S. 153). Bart und Bauch und majestätisches Gehabe genügen, um die statusfixierte Mehrheit zu täuschen.

Hinter die Maske vermag allein Mallett zu blicken. Hare stellt ihn uns nie wirklich vor. Mallett ist verheiratet; darauf beschränkt sich sein Privatleben. Es ist für die Handlung unwichtig, und Hare schrieb seinen Roman zu einer Zeit, als zwischen Krimi und Seifenoper strikt getrennt wurde. Der "Fall" - und nur der Fall - steht im Mittelpunkt. Auf ihn soll sich die Aufmerksamkeit richten, wobei der Leser ausdrücklich involviert ist.

Mallett ist als Polizist in der Lage, sich allen Schichten anzupassen. Hare achtet sehr darauf, dies als besondere Fähigkeit herauszustellen, wenn der Inspektor zwanglos mit dem Adel, dem arbeitenden Mittelstand und der Unterschicht Umgang pflegt. Er schlüpft dabei in Rollen, gibt den Standesbewussten, den Gleichberechtigten, den Kumpel. Der ‚echte' Mallett ist nach Hare ein diensteifriger Ermittler, dessen einzige Schwäche sein Hang zu ausgiebigen Mittagsmahlzeiten darstellt. Einmal erwischt der peinlich berührte Sergeant Frant seinen Chef beim Büroschlaf, aber natürlich stellt sich heraus, dass Mallett stattdessen intensiv nachgedacht und den Fall aus einer Sackgasse geführt hat: Wahre Schwächen mag Hare seinem Helden nicht unterstellen.

Die Macht des Zufalls

Ein guter Krimi-Autor stiftet einerseits Verwirrung, während er anderseits sorgsam einem roten Handlungsfaden folgt. Der Leser will herausgefordert werden, wenn er quasi an der Seite des Detektivs Indizien mustert und über den Täter nachgrübelt. Besagter Autor wäre blamiert, hätte der Leser vor dem großen Finale, das gleichzeitig die Entlarvung des Strolches markiert, dessen Identität gelüftet. In unserem Fall dürfte das nicht geschehen, was aber nicht gänzlich Hares Verdienst ist.

Zwar hat er sich einen ebenso komplizierten wie logischen Plot ausgedacht, der zur vollen Zufriedenheit des lesenden Publikums aufgelöst wird. Der Weg dorthin ist allerdings reich an "Zufällen". Der Mordfall Ballantine führt eine Schar Verdächtiger zusammen, von denen einige überhaupt nichts mit der Tat zu tun haben. Verwechslungen und Fehlinterpretationen sollen dies nachträglich erklären. Was 1937 funktioniert haben dürfte, wirkt heute freilich aufgesetzt und wird als Ablenkungsmanöver bloßgestellt.

Einen Ausgleich bietet Hare, indem er seine Figuren mit knappen aber sorgfältig ausgestalteten Biografien ausstattet. Er überspitzt manchmal sacht satirisch, wobei er sich gern und sicher nicht zufällig auf Angehörige der Unterschicht konzentriert, die er als geistig schwerfällig, treuherzig und auf den Moment fixiert hinstellt. Hare war aus heutiger Sicht ein Snob, der Geist im Sinne von Intellekt auf die "oberen" Stände beschränkt sah, ohne die Augen davor zu verschließen, dass auch dort keineswegs alles Gold war, das glänzte.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Figur der Mrs. Eales, die sich als Geliebte vom reichen Ballantine aushalten ließ. 1937 war dies eine stillschweigend geduldete aber keineswegs gebilligte Verbindung, wobei Ballantine seine Ehe der Form halber bestehenließ. In einem Gespräch äußert sich Eales offen und ungeschminkt über die Details dieses Arrangements, womit sie sogar den hartgesottenen Mallett schockiert: Hare war wie gesagt konservativ sowie willens, eine politische Realität zu ignorieren, in der die unteren Klassen nachdrücklich Mitspracherechte einforderten. Er war jedoch nicht weltfremd oder willens, die Gegebenheit moralischer Veränderungen zu leugnen.

Polizeialltag einer fernen Vergangenheit

Als Autor steht Hare 1937 noch unter dem Einfluss klassischer Vorbilder. Vor allem E. C. Bentley (1875-1956) und seinen Gentleman-Ermittler Trent sowie Freeman Wills Croft (1879-1957), Schöpfer von Inspektor French, meinen Kritiker zu entdecken, aber natürlich spielt noch 1937 auch Sherlock Holmes eine große Rolle.

Mallett steht zwischen den Lagern: Zwar ist er Polizeibeamter und damit einem reglementierten System untergeordnet. Hare lockert jedoch die Zügel und lässt Mallett nach eigenem Gusto ermitteln. Damit erinnert er stark an die frühen Detektive, die nicht Geld oder Gerechtigkeit, sondern die intellektuelle Herausforderung suchten. Mallett ist sich der Tatsache, dass sein Wettstreit mit dem Täter diesen an den Galgen bringen wird, unangenehm bewusst. Genau hier zieht er sich auf seinen Status als Befehlsempfänger zurück und tröstet sich damit, dass nicht er das Todesurteil fällen wird.

Malletts Unbehagen speist sich zu einem guten Teil aus privaten, wiederum standesgeprägten Wertvorstellungen: Ballantine war kein Ehrenmann, sondern ein Betrüger, der viele Menschen, die ihm vertraut hatten, ins Unglück stürzte. Zum Zeitpunkt seines Todes bereitete er einen neuen Coup vor. Dem Gesetz war er bereits einmal entkommen. Deshalb holte sein Mörder nach, was von Rechts wegen fällig war - so denkt auch Mallett. Deshalb fällt letztlich nicht der Henker, sondern quasi das Schicksal das Urteil über den Mörder.

Die angesprochenen Schwächen werden durch die genannten Stärken jederzeit ausgeglichen. Wie so oft glättet der Nostalgie-Faktor letzte Stirnfalten. Ruhige Wohnung mit eigener Leiche ist ein alter und altmodischer Kriminalroman, der von einem talentierten Schriftsteller geschrieben wurde: Wer dies berücksichtigt, wird die Lektüre genießen.

Ruhige Wohnung mit eigener Leiche

Cyril Hare, Tal Verlag

Ruhige Wohnung mit eigener Leiche

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