Wolf

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 2015
  • 5
  • München: Goldmann, 2015, Seiten: 448, Übersetzt: Rainer Schmidt
  • London: Bantam, 2014, Titel: 'Wolf', Originalsprache
Wertung wird geladen
Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2014

Überleben im Kampf gegen das Unvermeidliche

Mit einem Torpedosystem, genannt Wolf, hat Ingenieur Oliver Anchor-Ferrers sein Vermögen gemacht. Nach einer schweren Herzoperation musste er sich ins Privatleben zurückziehen. Mit Gattin Matilda und Tochter Lucia genießt er seine Altersruhe auf dem feudalen Landsitz "The Turrets", der landschaftlich schön aber abgelegen in den Mandip Hills der englischen Grafschaft Somerset liegt.

Fünfzehn Jahre zuvor hatte eine Tragödie die Familie beinahe zerstört, als der Psychopath Minnet Kable Lucias Ex-Freund Hugo und dessen neue Freundin Sophie erst brutal ermordete, um dann ihre Gedärme in Herzform im Wald zu drapieren. Lucia hat dieses Geschehen nie überwunden, driftet seither haltlos durchs Leben und fürchtet noch immer Kables Rückkehr, obwohl dieser seit damals im Gefängnis sitzt.

Als nun wieder Därme in den Bäumen hängen, denkt die Familie an einen Ausbruch und informiert die Polizei. Doch "Detective Inspector Honey" und "Detective Sergeant Molina" entpuppen sich als Verbrecher, die mit Kable nichts zu tun haben. Die Anchor-Ferrers werden in ihrem Haus gefangen, mit Folter und Tod bedroht und mit zunehmender Intensität terrorisiert. Oliver glaubt an einen Racheakt im Zusammenhang mit Wolf, denn diese Waffe hat für viele Tode gesorgt.

Matilda gelingt es, den Familienhund Bear einen Hilferuf unter das Halsband zu schieben. Das Tier kann mit der Nachricht entkommen, wobei jedoch Adresse und Absender verlorengehen. Über einige Umwege gelangt der Zettel, auf dem nur noch "Helft uns" zu lesen ist, an (den echten) Detective Inspector Jack Caffery. Er muss so rasch wie möglich dieses Rätsel klären, hat jedoch nur diesen Anhaltspunkt für seine Ermittlung: Bears Magen ist prall gefüllt mit kostbarem Schmuck, dessen Herkunft sich womöglich nachweisen lässt ...

Unwirklicher Irrsinn in gnadenloser Realität

Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit: Neue Autoren betreten mit einem Donnerschlag = einem Buch, das Kritiker, Medien und Leser gleichermaßen entzückt, die Literaturszene. Über den grünen Klee gelobt und mit Erwartungen förmlich überhäuft, wird es für die Betroffenen doppelt schwierig, die Schriftstellerkarriere mit vergleichbarem Erfolg weiterzuverfolgen. Der Moment wird und muss kommen, in dem mindestens eine der oben genannten Gruppen missmutig zu dem Schluss kommt, dass "der neue Roman von X" keine der ursprünglichen Qualitäten aufweist.

Wer hoch fällt, wird umso tiefer stürzen: Nicht nur Luzifer, sondern auch Mo Hayder musste dies inzwischen erfahren. Mit Der Vogelmann und Die Behandlung - gleichzeitig die ersten beiden Bände ihrer Serie um den britischen Polizisten Jack Caffery - hatte sie allerdings die Messlatte ungemein hoch gelegt. Selten verschmelzen Spannung und explizites aber nie zum Selbstzweck gerinnendes Grauen plus eine Prise Mystik zu einer gleichermaßen unterhaltsamen wie erschreckenden Lektüre.

Doch wie sollte Hayder das entfesselte Grauen steigern? Sie bemühte sich redlich und verfasste serienunabhängige Romane, kehrte aber immer zu Jack Caffery zurück, dem sie jedoch die ursprüngliche Präsenz nahm, indem sie ihm eine zweite Hauptfigur zur Seite stellte. Die Polizeitaucherin Phoebe "Flea" Marley wurde nie ein Liebling der Leser, was angesichts allzu plakativer Neurosen kaum wundert.

An einem Tag wie jeder andere

Umso erfreulicher ist es, dass Caffery und Marley, die nicht nur beruflich zusammenarbeiteten, sondern auch ein privates Verhältnis pflegten, sich getrennt haben. Sie bleibt in Bristol und außerhalb des Geschehens, Caffery ist wieder solo und steht allein im Zentrum der Krimi-Handlung dieser Geschichte.

Eine zweite Ereignisebene bleibt der Familie Anchor-Ferrers reserviert, die ein Martyrium erleidet, das Hayder mit der bekannten Meisterschaft und ohne den Blick abzuwenden unbehaglich eindringlich schildert. So lange unklar ist, weshalb "Honey" und "Molina" die Anchor-Ferrers heimsuchen, ist die Stimmung hoffnungslos: Mit diesen Tätern ist nicht zu verhandeln. Sie sind Söldner, deren Alltagsgeschäft Terror und Tod sind. Jegliches Bemühen, sich als Menschen in Erinnerung zu bringen, scheitert. Stück für Stück verlieren die Anchor-Ferrers ihr Selbstbewusstsein, ihre Hoffnung, ihre Würde. Systematisch werden sie in den Wahnsinn getrieben.

Als Hayder zumindest dem Leser die Ungewissheit nimmt, indem sie enthüllt, wer aus welchem Grund hinter Honey und Molina steckt, kann dieser eine gewisse Enttäuschung nicht unterdrücken: Wie so oft kann die Lösung dem Rätsel nicht standhalten. Das Böse, das den Anchor-Ferrers widerfährt, ist einmal mehr schrecklich banal. Dies mag realistisch sein, ist aber der Stabilität des Spannungsbogens nicht förderlich, denn es mindert die Atmosphäre der Bedrohung, die bisher die Ereignisse in "The Turrets" prägte, als der Tod der Familie längst beschlossene Sache schien.

Das Pendel schlägt immer zurück

Womit genannter Leser Hayder planmäßig in die Falle gegangen ist. Sie weiß selbst, dass klassische Spannung nicht aufkommen kann, wenn eine Falle allzu perfekt zugeschnappt ist. Die Maus darin muss eine Schwachstelle erkennen und ihre Flucht vorbereiten, die mit der gewaltsamen Konfrontation mit dem Fallensteller einhergehen wird. Hier ist es der herzkranke Oliver Anchor-Ferrers, der seinen Verstand aktiviert, um einerseits den Verantwortlichen hinter dem Terror zu identifizieren, während er andererseits eine Methode gefunden hat, die Nachwelt über die Ereignisse in "The Turrets" zu informieren, sollte die Familie nicht überleben.

Hayder weitet die Szenerie, indem sie Honey und Molina individualisiert. Wir erfahren Persönliches über sie. Sie werden zu Menschen, wodurch sie für den Leser ihre bedrohliche Unbarmherzigkeit verlieren - scheinbar, denn als die Ereignisse zielgerade auf einen finalen Überlebenskampf unter polizeilicher Beteiligung hinauszulaufen drohen, gelingt Hayder ein unerwarteter Twist: Die Ereignisse sind gänzlich anders, als sie sich bisher darstellten - und als sich der Leser diese Überraschung verdaut hat, folgt gleich der nächste Schlag.

Gleichzeitig keimt an anderer Stelle ein neues Spannungsmoment auf. Dramatisch und abstrus zugleich - Hayders Markenzeichen - gerät Jack Caffery in die Handlung. Als wir ihn (wieder-) sehen, hat er gänzlich anderes im Sinn, als die Anchor-Ferrers zu retten, von deren Existenz er gar nicht weiß. Caffery ist nach dem Ende seiner Liason mit Flea Marley erneut ein Opfer der Erinnerungen an seinen Bruder Ewan, der vor vielen Jahren von einem Ring organisierter Kinderschänder entführt und umgebracht wurde. Er entdeckt eine bisher übersehene Spur und nimmt die Fährte wieder auf.

Dieses Anknüpfen an die Vergangenheit ist riskant, denn die Caffery-Vita hatte sich in den Bänden 3 bis 6 weiterentwickelt, und zumindest der Leser kennt die Umstände von Ewans Ende bereits. Nun lässt Hayder Caffery womöglich allzu Bekanntes aufrühren. Dazu gehört auch die neuerliche Bekanntschaft mit dem "Walking Man", einer durchaus mythischen Figur, die mehr als ein Hauch Übernatürlichkeit umweht, wobei es Hayder wie Autorenkollege John Connolly glücklicherweise gelingt, die Balance zwischen Geheimnis und Übertreibung zu wahren.

Per Puzzle zum Finale

Während der Terror in "The Turrets" sich steigert und plötzlich eine gänzlich neue Dramatik entwickelt, übt sich Caffery in klassischer Ermittlungsarbeit. Der "Walking Man" hat ihn auf ein mögliches Verbrechen aufmerksam gemacht. Skurril aber glaubhaft bleibt der einzige Hinweis ein gravierter Ring, der aus dem Bauch eines Hundes zum Vorschein kommt! Natürlich findet Caffery darauf nicht den Besitzernamen, was die Nachforschungen allzu simpel gestalten würde, sondern obskure Symbole, die aufwändig entschlüsselt werden müssen.

Hayder gestaltet dies als Wettlauf zwischen Caffery und den Killern in "The Turrets", wobei dort die Konstellationen mehrfach wechseln. Während die Anchor-Ferrers nervenzerrend in immer neue Lebensgefahren geraten, übt sich Caffery in Systematik und arbeitet sich langsam aber sicher zur Lösung vor. Dabei gerät er genretypisch in diverse Sackgassen, die er aber zügig hinter sich lässt, ohne dabei genial und damit langweilig zu wirken.

Im Finale laufen alle Fäden zusammen. Hayder greift noch einmal tief in die Trickkiste, um zumindest für ihr Publikum falsche Fährten zu legen. Das Ende ist konsequent aber bitter; auch dieses Mal ist die Verfasserin keine Freundin des Happy-Ends. In einer Coda erfährt Caffery endlich die bittere Wahrheit darüber, wie sein Bruder starb, und ist anschließend erst recht unglücklich, da ihm das Schicksal bzw. Hayder einen letzten, besonders gemeinen Streich spielen.

Mit Wolf hat Mo Hayder abermals ihren verqueren Einfallsreichtum unter Beweis gestellt: Sie versteht es, Schmerz und Demütigung so zu schildern, dass ihre Leser schaudern, denn hier teilt sich Leiden mit. Wie es mit Jack Caffery weitergeht, bleibt offen; das letzte Wort hat der "Walking Man", der ebenso vielversprechend wie bedrohlich verkündet:

 

"Ihr Leben wird von heute an anders sein, aber Sie werden überleben. Sie werden weiterleben."

 

Wolf

Mo Hayder, Goldmann

Wolf

Deine Meinung zu »Wolf«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

Krimi-Couch Redakteur Dr. Michael Drewniok öffnet sein privates Bücherarchiv, das mittlerweile 11.000 Bände umfasst. Kommen Sie mit auf eine spannende und amüsante kleine Zeitreise, die mit viel nostalgischem Charme, skurrilen und amüsanten Anekdoten aufwartet. Willkommen bei „Dr. Drewnioks mörderische Schattenseiten“.

mehr erfahren